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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Monophyletischer Stammbaum des Thierreichs.
schiedenen Stämmen, und zweitens die Menge von verbindenden
Uebergangsformen, welche einerseits zwischen den verschiedenen Grup-
pen des Würmerstammes, und andrerseits zwischen diesen und den nie-
dersten, auf tiefster Sonderungsstufe stehen gebliebenen Thieren der
fünf übrigen Stämme existiren.

Die wahrscheinlichste genealogische Hypothese über den Ursprung
und die paläontologische Entwickelung des Thierreichs ist demnach fol-
gende (Taf. III). Durch Urzeugung entstanden zuerst thierische Mo-
neren, gleich denen des Pflanzenreichs und des Protistenreichs ganz
einfache und structurlose Plasmastücke, aber von beiden durch leichte
Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung ihres eiweißartigen
Plasma, und durch die daraus folgende Entwickelung zu echt thieri-
schen Formen sich unterscheidend. Jndem im Jnneren dieser gleichar-
tigen Moneren sich ein Kern von dem umgebenden Protoplasma son-
derte, entstanden die ersten thierischen Zellen, ebenfalls nicht in ihrer
Form, sondern nur in ihrer chemischen Zusammensetzung von den ein-
fachsten selbstständigen Zellen unter den Urpflanzen und Protisten ver-
schieden. Diese nackten einzelligen Thiere, an Form gleichwerthig
den Eiern der vielzelligen Thiere, lebten anfangs selbstständig, gleich
den heute noch lebenden Amoeben. Später aber bildeten sie, in Co-
lonien beisammen bleibend, vielzellige Körper, gleich dem kugeligen
Haufen von Furchungskugeln, welcher bei den vielzelligen Thieren
aus der wiederholten Theilung des Eies entsteht (Vergl. Fig. 2, S. 145,
und Fig. 3, 4, S. 146). Aus diesen einfachen Haufen gleichartiger
Zellen gingen allmählich durch Sonderung und Vervollkommnung die
niedersten Würmer hervor, welche in den heute noch lebenden Jnfu-
sionsthierchen ihre nächsten Verwandten besitzen. Die Ontogenie
vieler Würmer, ferner vieler Pflanzenthiere, Sternthiere und Weich-
thiere, wiederholt uns noch heutzutage jenen wichtigen Vorgang der
Phylogenie, indem das gefurchte Ei, d. h. der vielzellige, aus der Ei-
theilung entstandene Körper sich zunächst in einen bewimperten "infu-
sorienartigen" Embryo oder Larve verwandelt. Aus gleichen bewim-
perten Jnfusorien entstanden dann durch weitere Differenzirung die

Monophyletiſcher Stammbaum des Thierreichs.
ſchiedenen Staͤmmen, und zweitens die Menge von verbindenden
Uebergangsformen, welche einerſeits zwiſchen den verſchiedenen Grup-
pen des Wuͤrmerſtammes, und andrerſeits zwiſchen dieſen und den nie-
derſten, auf tiefſter Sonderungsſtufe ſtehen gebliebenen Thieren der
fuͤnf uͤbrigen Staͤmme exiſtiren.

Die wahrſcheinlichſte genealogiſche Hypotheſe uͤber den Urſprung
und die palaͤontologiſche Entwickelung des Thierreichs iſt demnach fol-
gende (Taf. III). Durch Urzeugung entſtanden zuerſt thieriſche Mo-
neren, gleich denen des Pflanzenreichs und des Protiſtenreichs ganz
einfache und ſtructurloſe Plasmaſtuͤcke, aber von beiden durch leichte
Unterſchiede in der chemiſchen Zuſammenſetzung ihres eiweißartigen
Plasma, und durch die daraus folgende Entwickelung zu echt thieri-
ſchen Formen ſich unterſcheidend. Jndem im Jnneren dieſer gleichar-
tigen Moneren ſich ein Kern von dem umgebenden Protoplasma ſon-
derte, entſtanden die erſten thieriſchen Zellen, ebenfalls nicht in ihrer
Form, ſondern nur in ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung von den ein-
fachſten ſelbſtſtaͤndigen Zellen unter den Urpflanzen und Protiſten ver-
ſchieden. Dieſe nackten einzelligen Thiere, an Form gleichwerthig
den Eiern der vielzelligen Thiere, lebten anfangs ſelbſtſtaͤndig, gleich
den heute noch lebenden Amoeben. Spaͤter aber bildeten ſie, in Co-
lonien beiſammen bleibend, vielzellige Koͤrper, gleich dem kugeligen
Haufen von Furchungskugeln, welcher bei den vielzelligen Thieren
aus der wiederholten Theilung des Eies entſteht (Vergl. Fig. 2, S. 145,
und Fig. 3, 4, S. 146). Aus dieſen einfachen Haufen gleichartiger
Zellen gingen allmaͤhlich durch Sonderung und Vervollkommnung die
niederſten Wuͤrmer hervor, welche in den heute noch lebenden Jnfu-
ſionsthierchen ihre naͤchſten Verwandten beſitzen. Die Ontogenie
vieler Wuͤrmer, ferner vieler Pflanzenthiere, Sternthiere und Weich-
thiere, wiederholt uns noch heutzutage jenen wichtigen Vorgang der
Phylogenie, indem das gefurchte Ei, d. h. der vielzellige, aus der Ei-
theilung entſtandene Koͤrper ſich zunaͤchſt in einen bewimperten „infu-
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[391/0416] Monophyletiſcher Stammbaum des Thierreichs. ſchiedenen Staͤmmen, und zweitens die Menge von verbindenden Uebergangsformen, welche einerſeits zwiſchen den verſchiedenen Grup- pen des Wuͤrmerſtammes, und andrerſeits zwiſchen dieſen und den nie- derſten, auf tiefſter Sonderungsſtufe ſtehen gebliebenen Thieren der fuͤnf uͤbrigen Staͤmme exiſtiren. Die wahrſcheinlichſte genealogiſche Hypotheſe uͤber den Urſprung und die palaͤontologiſche Entwickelung des Thierreichs iſt demnach fol- gende (Taf. III). Durch Urzeugung entſtanden zuerſt thieriſche Mo- neren, gleich denen des Pflanzenreichs und des Protiſtenreichs ganz einfache und ſtructurloſe Plasmaſtuͤcke, aber von beiden durch leichte Unterſchiede in der chemiſchen Zuſammenſetzung ihres eiweißartigen Plasma, und durch die daraus folgende Entwickelung zu echt thieri- ſchen Formen ſich unterſcheidend. Jndem im Jnneren dieſer gleichar- tigen Moneren ſich ein Kern von dem umgebenden Protoplasma ſon- derte, entſtanden die erſten thieriſchen Zellen, ebenfalls nicht in ihrer Form, ſondern nur in ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung von den ein- fachſten ſelbſtſtaͤndigen Zellen unter den Urpflanzen und Protiſten ver- ſchieden. Dieſe nackten einzelligen Thiere, an Form gleichwerthig den Eiern der vielzelligen Thiere, lebten anfangs ſelbſtſtaͤndig, gleich den heute noch lebenden Amoeben. Spaͤter aber bildeten ſie, in Co- lonien beiſammen bleibend, vielzellige Koͤrper, gleich dem kugeligen Haufen von Furchungskugeln, welcher bei den vielzelligen Thieren aus der wiederholten Theilung des Eies entſteht (Vergl. Fig. 2, S. 145, und Fig. 3, 4, S. 146). Aus dieſen einfachen Haufen gleichartiger Zellen gingen allmaͤhlich durch Sonderung und Vervollkommnung die niederſten Wuͤrmer hervor, welche in den heute noch lebenden Jnfu- ſionsthierchen ihre naͤchſten Verwandten beſitzen. Die Ontogenie vieler Wuͤrmer, ferner vieler Pflanzenthiere, Sternthiere und Weich- thiere, wiederholt uns noch heutzutage jenen wichtigen Vorgang der Phylogenie, indem das gefurchte Ei, d. h. der vielzellige, aus der Ei- theilung entſtandene Koͤrper ſich zunaͤchſt in einen bewimperten „infu- ſorienartigen“ Embryo oder Larve verwandelt. Aus gleichen bewim- perten Jnfuſorien entſtanden dann durch weitere Differenzirung die

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/416>, abgerufen am 22.11.2024.