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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Blutsverwandtschaft der Schädellosen und Seescheiden.
wickelung aus dem Ei ursprünglich in derselben einfachsten Form an-
gelegt, welche sie beim Amphioxus zeitlebens behalten. Erst später
entwickelt sich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem Rücken-
mark das Gehirn, und aus dem Rückenstrang der das Gehirn um-
schließende Schädel. Da bei dem Amphioxus diese beiden wichtigen
Organe gar nicht zur Entwickelung gelangen, so können wir die durch
ihn vertretene Thierklasse mit Recht als Schädellose (Acrania) be-
zeichnen, im Gegensatz zu allen übrigen, den Schädelthieren (Cra-
niota).
Gewöhnlich werden die Schädellosen Rohrherzen oder Röh-
renherzen
(Leptocardia) genannt, weil ein centralisirtes Herz noch
fehlt, und das Blut durch die Zusammenziehungen der röhrenförmigen
Blutgefäße selbst im Körper umhergetrieben wird. Die Schädelthiere,
welche dagegen ein centralisirtes, beutelförmiges Herz besitzen, müßten
dann im Gegensatz dazu Beutelherzen oder Centralherzen
(Pachycardia) genannt werden.

Offenbar haben sich die Schädelthiere oder Centralherzen erst in
späterer Primordialzeit aus Schädellosen oder Rohrherzen, welche dem
Amphioxus nahe standen, allmählich entwickelt. Darüber läßt uns
die Ontogenie der Schädelthiere nicht in Zweifel. Wo stammen nun
aber diese Schädellosen selbst her? Auf diese wichtige Frage hat uns,
wie ich schon im letzten Vortrage erwähnte, erst die jüngste Zeit eine
höchst überraschende Antwort gegeben. Aus den 1867 veröffentlichten
Untersuchungen von Kowalewski über die individuelle Entwickelung
des Amphioxus und der festsitzenden Seescheiden (Ascidiae) [aus der
Klasse der Mantelthiere (Tunicata)] hat sich ergeben, daß die Onto-
genie dieser beiden ganz verschiedenen Thierformen in ihrer ersten Ju-
gend merkwürdig übereinstimmt. Die frei umherschwimmenden Lar-
ven der Ascidien entwickeln die unzweifelhafte Anlage zum Rücken-
mark und zum Rückenstrang, und zwar ganz in derselben Weise, wie
der Amphioxus. Allerdings bilden sie diese wichtigsten Organe des
Wirbelthierkörpers späterhin nicht weiter aus. Vielmehr gehen sie
eine rückschreitende Verwandlung ein, setzen sich auf dem Meeresbo-
den fest, und wachsen zu unförmlichen Klumpen aus, in denen man

Blutsverwandtſchaft der Schaͤdelloſen und Seeſcheiden.
wickelung aus dem Ei urſpruͤnglich in derſelben einfachſten Form an-
gelegt, welche ſie beim Amphioxus zeitlebens behalten. Erſt ſpaͤter
entwickelt ſich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem Ruͤcken-
mark das Gehirn, und aus dem Ruͤckenſtrang der das Gehirn um-
ſchließende Schaͤdel. Da bei dem Amphioxus dieſe beiden wichtigen
Organe gar nicht zur Entwickelung gelangen, ſo koͤnnen wir die durch
ihn vertretene Thierklaſſe mit Recht als Schaͤdelloſe (Acrania) be-
zeichnen, im Gegenſatz zu allen uͤbrigen, den Schaͤdelthieren (Cra-
niota).
Gewoͤhnlich werden die Schaͤdelloſen Rohrherzen oder Roͤh-
renherzen
(Leptocardia) genannt, weil ein centraliſirtes Herz noch
fehlt, und das Blut durch die Zuſammenziehungen der roͤhrenfoͤrmigen
Blutgefaͤße ſelbſt im Koͤrper umhergetrieben wird. Die Schaͤdelthiere,
welche dagegen ein centraliſirtes, beutelfoͤrmiges Herz beſitzen, muͤßten
dann im Gegenſatz dazu Beutelherzen oder Centralherzen
(Pachycardia) genannt werden.

Offenbar haben ſich die Schaͤdelthiere oder Centralherzen erſt in
ſpaͤterer Primordialzeit aus Schaͤdelloſen oder Rohrherzen, welche dem
Amphioxus nahe ſtanden, allmaͤhlich entwickelt. Daruͤber laͤßt uns
die Ontogenie der Schaͤdelthiere nicht in Zweifel. Wo ſtammen nun
aber dieſe Schaͤdelloſen ſelbſt her? Auf dieſe wichtige Frage hat uns,
wie ich ſchon im letzten Vortrage erwaͤhnte, erſt die juͤngſte Zeit eine
hoͤchſt uͤberraſchende Antwort gegeben. Aus den 1867 veroͤffentlichten
Unterſuchungen von Kowalewski uͤber die individuelle Entwickelung
des Amphioxus und der feſtſitzenden Seeſcheiden (Ascidiae) [aus der
Klaſſe der Mantelthiere (Tunicata)] hat ſich ergeben, daß die Onto-
genie dieſer beiden ganz verſchiedenen Thierformen in ihrer erſten Ju-
gend merkwuͤrdig uͤbereinſtimmt. Die frei umherſchwimmenden Lar-
ven der Ascidien entwickeln die unzweifelhafte Anlage zum Ruͤcken-
mark und zum Ruͤckenſtrang, und zwar ganz in derſelben Weiſe, wie
der Amphioxus. Allerdings bilden ſie dieſe wichtigſten Organe des
Wirbelthierkoͤrpers ſpaͤterhin nicht weiter aus. Vielmehr gehen ſie
eine ruͤckſchreitende Verwandlung ein, ſetzen ſich auf dem Meeresbo-
den feſt, und wachſen zu unfoͤrmlichen Klumpen aus, in denen man

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[438/0463] Blutsverwandtſchaft der Schaͤdelloſen und Seeſcheiden. wickelung aus dem Ei urſpruͤnglich in derſelben einfachſten Form an- gelegt, welche ſie beim Amphioxus zeitlebens behalten. Erſt ſpaͤter entwickelt ſich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem Ruͤcken- mark das Gehirn, und aus dem Ruͤckenſtrang der das Gehirn um- ſchließende Schaͤdel. Da bei dem Amphioxus dieſe beiden wichtigen Organe gar nicht zur Entwickelung gelangen, ſo koͤnnen wir die durch ihn vertretene Thierklaſſe mit Recht als Schaͤdelloſe (Acrania) be- zeichnen, im Gegenſatz zu allen uͤbrigen, den Schaͤdelthieren (Cra- niota). Gewoͤhnlich werden die Schaͤdelloſen Rohrherzen oder Roͤh- renherzen (Leptocardia) genannt, weil ein centraliſirtes Herz noch fehlt, und das Blut durch die Zuſammenziehungen der roͤhrenfoͤrmigen Blutgefaͤße ſelbſt im Koͤrper umhergetrieben wird. Die Schaͤdelthiere, welche dagegen ein centraliſirtes, beutelfoͤrmiges Herz beſitzen, muͤßten dann im Gegenſatz dazu Beutelherzen oder Centralherzen (Pachycardia) genannt werden. Offenbar haben ſich die Schaͤdelthiere oder Centralherzen erſt in ſpaͤterer Primordialzeit aus Schaͤdelloſen oder Rohrherzen, welche dem Amphioxus nahe ſtanden, allmaͤhlich entwickelt. Daruͤber laͤßt uns die Ontogenie der Schaͤdelthiere nicht in Zweifel. Wo ſtammen nun aber dieſe Schaͤdelloſen ſelbſt her? Auf dieſe wichtige Frage hat uns, wie ich ſchon im letzten Vortrage erwaͤhnte, erſt die juͤngſte Zeit eine hoͤchſt uͤberraſchende Antwort gegeben. Aus den 1867 veroͤffentlichten Unterſuchungen von Kowalewski uͤber die individuelle Entwickelung des Amphioxus und der feſtſitzenden Seeſcheiden (Ascidiae) [aus der Klaſſe der Mantelthiere (Tunicata)] hat ſich ergeben, daß die Onto- genie dieſer beiden ganz verſchiedenen Thierformen in ihrer erſten Ju- gend merkwuͤrdig uͤbereinſtimmt. Die frei umherſchwimmenden Lar- ven der Ascidien entwickeln die unzweifelhafte Anlage zum Ruͤcken- mark und zum Ruͤckenſtrang, und zwar ganz in derſelben Weiſe, wie der Amphioxus. Allerdings bilden ſie dieſe wichtigſten Organe des Wirbelthierkoͤrpers ſpaͤterhin nicht weiter aus. Vielmehr gehen ſie eine ruͤckſchreitende Verwandlung ein, ſetzen ſich auf dem Meeresbo- den feſt, und wachſen zu unfoͤrmlichen Klumpen aus, in denen man

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/463>, abgerufen am 24.11.2024.