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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Stellung des Menschen im System der Wirbelthiere.
Thiere zukömmt. Dann können wir, wenn überhaupt die Descendenz-
theorie richtig ist, aus der Stellung im System wiederum auf die
wirkliche Stammverwandtschaft zurückschließen und den Grad der
Blutsverwandtschaft bestimmen, durch welchen der Mensch mit den men-
schenähnlichsten Thieren zusammenhängt. Der hypothetische Stamm-
baum des Menschengeschlechts wird sich uns dann als das Endresultat
dieser vergleichend anatomischen und systematischen Untersuchung ganz
von selbst ergeben.

Wenn Sie nun auf Grund der vergleichenden Anatomie und On-
togenie die Stellung des Menschen in dem natürlichen System der
Thiere aufsuchen, mit welchem wir uns in den beiden letzten Vorträ-
gen beschäftigten, so tritt Jhnen zunächst die unumstößliche Thatsache
entgegen, daß der Mensch dem Stamm oder Phylum der Wirbel-
thiere
angehört. Alle körperlichen Eigenthümlichkeiten, durch wel-
che sich alle Wirbelthiere so auffallend von allen Wirbellosen unter-
scheiden, besitzt auch der Mensch. Eben so wenig ist es jemals zwei-
felhaft gewesen, daß unter allen Wirbelthieren die Säugethiere
dem Menschen am nächsten stehen, und daß er alle charakteristischen
Merkmale besitzt, durch welche sich die Säugethiere vor allen übrigen
Wirbelthieren auszeichnen. Wenn Sie dann weiterhin die drei ver-
schiedenen Hauptgruppen oder Unterklassen der Säugethiere in's Auge
fassen, deren gegenseitiges Verhältniß wir im letzten Vortrage erörter-
ten, so kann nicht der geringste Zweifel darüber obwalten, daß der
Mensch zu den Placentalthieren gehört, und alle die wichtigen
Eigenthümlichkeiten mit den übrigen Placentalien theilt, durch welche
sich diese von den Beutelthieren und von den Kloakenthieren unter-
scheiden. Endlich ist von den beiden Hauptgruppen der Placental-
thiere, Deciduaten und Jndeciduen, diejenigen der Deciduaten
zweifelsohne diejenige, welche auch den Menschen umfaßt. Denn
der menschliche Embryo (S. 240 b, c) entwickelt sich mit einer echten
Decidua, und unterscheidet sich dadurch wesentlich von allen Decidua-
losen. Unter den Deciduathieren haben wir als zwei Legionen die
Zonoplacentalien mit gürtelförmiger Placenta (Raubthiere und Schein-

Stellung des Menſchen im Syſtem der Wirbelthiere.
Thiere zukoͤmmt. Dann koͤnnen wir, wenn uͤberhaupt die Deſcendenz-
theorie richtig iſt, aus der Stellung im Syſtem wiederum auf die
wirkliche Stammverwandtſchaft zuruͤckſchließen und den Grad der
Blutsverwandtſchaft beſtimmen, durch welchen der Menſch mit den men-
ſchenaͤhnlichſten Thieren zuſammenhaͤngt. Der hypothetiſche Stamm-
baum des Menſchengeſchlechts wird ſich uns dann als das Endreſultat
dieſer vergleichend anatomiſchen und ſyſtematiſchen Unterſuchung ganz
von ſelbſt ergeben.

Wenn Sie nun auf Grund der vergleichenden Anatomie und On-
togenie die Stellung des Menſchen in dem natuͤrlichen Syſtem der
Thiere aufſuchen, mit welchem wir uns in den beiden letzten Vortraͤ-
gen beſchaͤftigten, ſo tritt Jhnen zunaͤchſt die unumſtoͤßliche Thatſache
entgegen, daß der Menſch dem Stamm oder Phylum der Wirbel-
thiere
angehoͤrt. Alle koͤrperlichen Eigenthuͤmlichkeiten, durch wel-
che ſich alle Wirbelthiere ſo auffallend von allen Wirbelloſen unter-
ſcheiden, beſitzt auch der Menſch. Eben ſo wenig iſt es jemals zwei-
felhaft geweſen, daß unter allen Wirbelthieren die Saͤugethiere
dem Menſchen am naͤchſten ſtehen, und daß er alle charakteriſtiſchen
Merkmale beſitzt, durch welche ſich die Saͤugethiere vor allen uͤbrigen
Wirbelthieren auszeichnen. Wenn Sie dann weiterhin die drei ver-
ſchiedenen Hauptgruppen oder Unterklaſſen der Saͤugethiere in’s Auge
faſſen, deren gegenſeitiges Verhaͤltniß wir im letzten Vortrage eroͤrter-
ten, ſo kann nicht der geringſte Zweifel daruͤber obwalten, daß der
Menſch zu den Placentalthieren gehoͤrt, und alle die wichtigen
Eigenthuͤmlichkeiten mit den uͤbrigen Placentalien theilt, durch welche
ſich dieſe von den Beutelthieren und von den Kloakenthieren unter-
ſcheiden. Endlich iſt von den beiden Hauptgruppen der Placental-
thiere, Deciduaten und Jndeciduen, diejenigen der Deciduaten
zweifelsohne diejenige, welche auch den Menſchen umfaßt. Denn
der menſchliche Embryo (S. 240 b, c) entwickelt ſich mit einer echten
Decidua, und unterſcheidet ſich dadurch weſentlich von allen Decidua-
loſen. Unter den Deciduathieren haben wir als zwei Legionen die
Zonoplacentalien mit guͤrtelfoͤrmiger Placenta (Raubthiere und Schein-

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[489/0514] Stellung des Menſchen im Syſtem der Wirbelthiere. Thiere zukoͤmmt. Dann koͤnnen wir, wenn uͤberhaupt die Deſcendenz- theorie richtig iſt, aus der Stellung im Syſtem wiederum auf die wirkliche Stammverwandtſchaft zuruͤckſchließen und den Grad der Blutsverwandtſchaft beſtimmen, durch welchen der Menſch mit den men- ſchenaͤhnlichſten Thieren zuſammenhaͤngt. Der hypothetiſche Stamm- baum des Menſchengeſchlechts wird ſich uns dann als das Endreſultat dieſer vergleichend anatomiſchen und ſyſtematiſchen Unterſuchung ganz von ſelbſt ergeben. Wenn Sie nun auf Grund der vergleichenden Anatomie und On- togenie die Stellung des Menſchen in dem natuͤrlichen Syſtem der Thiere aufſuchen, mit welchem wir uns in den beiden letzten Vortraͤ- gen beſchaͤftigten, ſo tritt Jhnen zunaͤchſt die unumſtoͤßliche Thatſache entgegen, daß der Menſch dem Stamm oder Phylum der Wirbel- thiere angehoͤrt. Alle koͤrperlichen Eigenthuͤmlichkeiten, durch wel- che ſich alle Wirbelthiere ſo auffallend von allen Wirbelloſen unter- ſcheiden, beſitzt auch der Menſch. Eben ſo wenig iſt es jemals zwei- felhaft geweſen, daß unter allen Wirbelthieren die Saͤugethiere dem Menſchen am naͤchſten ſtehen, und daß er alle charakteriſtiſchen Merkmale beſitzt, durch welche ſich die Saͤugethiere vor allen uͤbrigen Wirbelthieren auszeichnen. Wenn Sie dann weiterhin die drei ver- ſchiedenen Hauptgruppen oder Unterklaſſen der Saͤugethiere in’s Auge faſſen, deren gegenſeitiges Verhaͤltniß wir im letzten Vortrage eroͤrter- ten, ſo kann nicht der geringſte Zweifel daruͤber obwalten, daß der Menſch zu den Placentalthieren gehoͤrt, und alle die wichtigen Eigenthuͤmlichkeiten mit den uͤbrigen Placentalien theilt, durch welche ſich dieſe von den Beutelthieren und von den Kloakenthieren unter- ſcheiden. Endlich iſt von den beiden Hauptgruppen der Placental- thiere, Deciduaten und Jndeciduen, diejenigen der Deciduaten zweifelsohne diejenige, welche auch den Menſchen umfaßt. Denn der menſchliche Embryo (S. 240 b, c) entwickelt ſich mit einer echten Decidua, und unterſcheidet ſich dadurch weſentlich von allen Decidua- loſen. Unter den Deciduathieren haben wir als zwei Legionen die Zonoplacentalien mit guͤrtelfoͤrmiger Placenta (Raubthiere und Schein-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/514>, abgerufen am 22.11.2024.