Zeitraum der Entwickelung des Menschengeschlechts.
Zweifel, daß die Existenz des Menschengeschlechts als solchen jedenfalls auf mehr als zwanzigtausend Jahre zurückgeht. Wahrscheinlich sind aber seitdem mehr als hunderttausend Jahre, vielleicht viele Hun- derte von Jahrtausenden verflossen, und es muß im Gegensatz dazu sehr komisch erscheinen, wenn noch heute unsere Kalender die "Erschaf- fung der Welt nach Calvisius" vor 5817 Jahren geschehen lassen.
Mögen Sie nun den Zeitraum, während dessen das Menschen- geschlecht bereits als solches existirte und sich über die Erde verbreitete, auf zwanzigtausend, oder auf hunderttausend, oder auf viele hundert- tausend Jahre anschlagen, jedenfalls ist derselbe verschwindend gering gegen die unfaßbare Länge der Zeiträume, welche für die stufenweise Entwickelung der langen Ahnenkette des Menschen erforderlich waren. Das geht schon hervor aus der sehr geringen Dicke, welche alle dilu- vialen Ablagerungen im Verhältniß zu den tertiären, und diese wie- derum im Verhältniß zu den vorhergegangenen besitzen (Vergl. Taf. IV. nebst Erklärung). Aber auch die unendlich lange Reihe der schritt- weise sich langsam entwickelnden Thiergestalten, von dem einfachsten Moner bis zum Amphioxus, von diesem bis zum Urfisch, vom Urfisch bis zum ersten Säugethiere und von diesem wiederum bis zum Men- schen, erheischt zu ihrer historischen Entwickelung eine Reihenfolge von Zeiträumen, die wahrscheinlich viele Millionen von Jahrtausenden um- fassen (Vergl. S. 102). Um Jhnen dieses wichtige Verhältniß in sei- ner ganzen Bedeutung vorzustellen, führe ich Jhnen hier nochmals die hypothetische Reihenfolge unserer thierischen Ahnen, wie sie durch die vergleichende Anatomie, Ontogonie und Paläontologie uns an die Hand gegeben wird, übersichtlich im Zusammenhange vor. Natürlich kann diese genealogische Hypothese nur ganz im Allgemeinen die Grundzüge des menschlichen Stammbaums andeuten, und sie läuft um so mehr Gefahr des Jrrthums, je strenger sie im Einzelnen auf die uns bekannten besonderen Thierformen bezogen wird. Es wird hierbei passend sein, die ganze Vorfahrenkette des Menschen in zwei große Gruppen zu bringen, in wirbellose Ahnen (Prochorden) und in Wirbelthier-Ahnen (Vertebraten; vergl. Taf. VI).
Zeitraum der Entwickelung des Menſchengeſchlechts.
Zweifel, daß die Exiſtenz des Menſchengeſchlechts als ſolchen jedenfalls auf mehr als zwanzigtauſend Jahre zuruͤckgeht. Wahrſcheinlich ſind aber ſeitdem mehr als hunderttauſend Jahre, vielleicht viele Hun- derte von Jahrtauſenden verfloſſen, und es muß im Gegenſatz dazu ſehr komiſch erſcheinen, wenn noch heute unſere Kalender die „Erſchaf- fung der Welt nach Calviſius“ vor 5817 Jahren geſchehen laſſen.
Moͤgen Sie nun den Zeitraum, waͤhrend deſſen das Menſchen- geſchlecht bereits als ſolches exiſtirte und ſich uͤber die Erde verbreitete, auf zwanzigtauſend, oder auf hunderttauſend, oder auf viele hundert- tauſend Jahre anſchlagen, jedenfalls iſt derſelbe verſchwindend gering gegen die unfaßbare Laͤnge der Zeitraͤume, welche fuͤr die ſtufenweiſe Entwickelung der langen Ahnenkette des Menſchen erforderlich waren. Das geht ſchon hervor aus der ſehr geringen Dicke, welche alle dilu- vialen Ablagerungen im Verhaͤltniß zu den tertiaͤren, und dieſe wie- derum im Verhaͤltniß zu den vorhergegangenen beſitzen (Vergl. Taf. IV. nebſt Erklaͤrung). Aber auch die unendlich lange Reihe der ſchritt- weiſe ſich langſam entwickelnden Thiergeſtalten, von dem einfachſten Moner bis zum Amphioxus, von dieſem bis zum Urfiſch, vom Urfiſch bis zum erſten Saͤugethiere und von dieſem wiederum bis zum Men- ſchen, erheiſcht zu ihrer hiſtoriſchen Entwickelung eine Reihenfolge von Zeitraͤumen, die wahrſcheinlich viele Millionen von Jahrtauſenden um- faſſen (Vergl. S. 102). Um Jhnen dieſes wichtige Verhaͤltniß in ſei- ner ganzen Bedeutung vorzuſtellen, fuͤhre ich Jhnen hier nochmals die hypothetiſche Reihenfolge unſerer thieriſchen Ahnen, wie ſie durch die vergleichende Anatomie, Ontogonie und Palaͤontologie uns an die Hand gegeben wird, uͤberſichtlich im Zuſammenhange vor. Natuͤrlich kann dieſe genealogiſche Hypotheſe nur ganz im Allgemeinen die Grundzuͤge des menſchlichen Stammbaums andeuten, und ſie laͤuft um ſo mehr Gefahr des Jrrthums, je ſtrenger ſie im Einzelnen auf die uns bekannten beſonderen Thierformen bezogen wird. Es wird hierbei paſſend ſein, die ganze Vorfahrenkette des Menſchen in zwei große Gruppen zu bringen, in wirbelloſe Ahnen (Prochorden) und in Wirbelthier-Ahnen (Vertebraten; vergl. Taf. VI).
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Zeitraum der Entwickelung des Menſchengeſchlechts.
Zweifel, daß die Exiſtenz des Menſchengeſchlechts als ſolchen jedenfalls
auf mehr als zwanzigtauſend Jahre zuruͤckgeht. Wahrſcheinlich ſind
aber ſeitdem mehr als hunderttauſend Jahre, vielleicht viele Hun-
derte von Jahrtauſenden verfloſſen, und es muß im Gegenſatz dazu
ſehr komiſch erſcheinen, wenn noch heute unſere Kalender die „Erſchaf-
fung der Welt nach Calviſius“ vor 5817 Jahren geſchehen laſſen.
Moͤgen Sie nun den Zeitraum, waͤhrend deſſen das Menſchen-
geſchlecht bereits als ſolches exiſtirte und ſich uͤber die Erde verbreitete,
auf zwanzigtauſend, oder auf hunderttauſend, oder auf viele hundert-
tauſend Jahre anſchlagen, jedenfalls iſt derſelbe verſchwindend gering
gegen die unfaßbare Laͤnge der Zeitraͤume, welche fuͤr die ſtufenweiſe
Entwickelung der langen Ahnenkette des Menſchen erforderlich waren.
Das geht ſchon hervor aus der ſehr geringen Dicke, welche alle dilu-
vialen Ablagerungen im Verhaͤltniß zu den tertiaͤren, und dieſe wie-
derum im Verhaͤltniß zu den vorhergegangenen beſitzen (Vergl. Taf.
IV. nebſt Erklaͤrung). Aber auch die unendlich lange Reihe der ſchritt-
weiſe ſich langſam entwickelnden Thiergeſtalten, von dem einfachſten
Moner bis zum Amphioxus, von dieſem bis zum Urfiſch, vom Urfiſch
bis zum erſten Saͤugethiere und von dieſem wiederum bis zum Men-
ſchen, erheiſcht zu ihrer hiſtoriſchen Entwickelung eine Reihenfolge von
Zeitraͤumen, die wahrſcheinlich viele Millionen von Jahrtauſenden um-
faſſen (Vergl. S. 102). Um Jhnen dieſes wichtige Verhaͤltniß in ſei-
ner ganzen Bedeutung vorzuſtellen, fuͤhre ich Jhnen hier nochmals die
hypothetiſche Reihenfolge unſerer thieriſchen Ahnen, wie ſie durch die
vergleichende Anatomie, Ontogonie und Palaͤontologie uns an die Hand
gegeben wird, uͤberſichtlich im Zuſammenhange vor. Natuͤrlich kann
dieſe genealogiſche Hypotheſe nur ganz im Allgemeinen die Grundzuͤge
des menſchlichen Stammbaums andeuten, und ſie laͤuft um ſo mehr
Gefahr des Jrrthums, je ſtrenger ſie im Einzelnen auf die uns
bekannten beſonderen Thierformen bezogen wird. Es wird hierbei
paſſend ſein, die ganze Vorfahrenkette des Menſchen in zwei große
Gruppen zu bringen, in wirbelloſe Ahnen (Prochorden) und in
Wirbelthier-Ahnen (Vertebraten; vergl. Taf. VI).
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/525>, abgerufen am 22.11.2024.
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