Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Thierische Ahnenreihe des Menschen.
heute noch lebenden Orang, Gorilla und Schimpanse (S. 492). Entstan-
den
aus der vorigen Stufe durch Verlust des Schwanzes, theilweisen Ver-
lust der Behaarung und überwiegende Entwickelung des Gehirntheiles des
Schädels über dem Gesichtstheil desselben. Lebten wahrscheinlich in der
zweiten Hälfte der Tertiärzeit (miocene oder pliocene Periode).

Einundzwanzigste Stufe: Affenmenschen (Pithecanthropi)
oder sprachlose Urmenschen (Alali).

Unmittelbare Zwischenform zwischen
der zwanzigsten und zweiundzwanzigsten Stufe, zwischen den Menschenaffen und
den echten Menschen. Entstanden aus den Menschenaffen oder Anthro-
poiden durch die vollständige Angewöhnung an den aufrechten Gang, und die
dem entsprechende stärkere Differenzirung der vorderen Extremität zur Greifhand,
der hinteren zum Gangfuß. Obwohl sie durch die äußere Körperbildung den
echten Menschen wohl noch näher als den Menschenaffen standen, fehlte ihnen
doch noch das eigentlich charakteristische Merkmal des echten Menschen, die ar-
tikulirte menschliche Wortsprache und die damit verbundene bewußte Begriffs-
bildung, beruhend auf gesteigerter Abstraction der Anschauungen. Lebten
wahrscheinlich gegen Ende der Tertiärzeit und im Beginn der Quartärzeit.

Zweiundzwanzigste Stufe: Echte Menschen oder sprechende
Menschen (Homines).

Entstanden aus den vorigen durch die Aus-
bildung der artikulirten menschlichen Sprache und die damit verbundene höhere
Differenzirung des Kehlkopfs, sowie durch die daraus folgende höhere Entwicke-
lung des großen Gehirns. Lebten wahrscheinlich erst in der Quartärperiode
(diluviale oder pleistocene, und alluviale oder recente Zeit bis zur Gegenwart).

Diejenigen Entwickelungsvorgänge, welche zunächst die Entste-
hung der affenähnlichsten Menschen aus den menschenähnlichsten Affen
veranlaßten, sind in zwei Anpassungsthätigkeiten der letzteren zu suchen,
welche vor allen anderen die Hebel zur Menschwerdung waren: der
aufrechte Gang und die gegliederte Sprache.
Diese beiden
physiologischen Functionen entstanden nothwendig zugleich mit
zwei entsprechenden morphologischen Umbildungen, mit denen
sie in der engsten Wechselwirkung stehen, nämlich Differenzirung
der beiden Gliedmaßenpaare und Differenzirung des
Kehlkopfs.
Die wichtige Vervollkommnung dieser Organe und
ihrer Functionen mußte aber drittens nothwendig auf die Diffe-
renzirung des Gehirns und der davon abhängigen
Seelenthätigkeiten
mächtig zurückwirken, und damit war der

Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen.
heute noch lebenden Orang, Gorilla und Schimpanſe (S. 492). Entſtan-
den
aus der vorigen Stufe durch Verluſt des Schwanzes, theilweiſen Ver-
luſt der Behaarung und uͤberwiegende Entwickelung des Gehirntheiles des
Schaͤdels uͤber dem Geſichtstheil deſſelben. Lebten wahrſcheinlich in der
zweiten Haͤlfte der Tertiaͤrzeit (miocene oder pliocene Periode).

Einundzwanzigſte Stufe: Affenmenſchen (Pithecanthropi)
oder ſprachloſe Urmenſchen (Alali).

Unmittelbare Zwiſchenform zwiſchen
der zwanzigſten und zweiundzwanzigſten Stufe, zwiſchen den Menſchenaffen und
den echten Menſchen. Entſtanden aus den Menſchenaffen oder Anthro-
poiden durch die vollſtaͤndige Angewoͤhnung an den aufrechten Gang, und die
dem entſprechende ſtaͤrkere Differenzirung der vorderen Extremitaͤt zur Greifhand,
der hinteren zum Gangfuß. Obwohl ſie durch die aͤußere Koͤrperbildung den
echten Menſchen wohl noch naͤher als den Menſchenaffen ſtanden, fehlte ihnen
doch noch das eigentlich charakteriſtiſche Merkmal des echten Menſchen, die ar-
tikulirte menſchliche Wortſprache und die damit verbundene bewußte Begriffs-
bildung, beruhend auf geſteigerter Abſtraction der Anſchauungen. Lebten
wahrſcheinlich gegen Ende der Tertiaͤrzeit und im Beginn der Quartaͤrzeit.

Zweiundzwanzigſte Stufe: Echte Menſchen oder ſprechende
Menſchen (Homines).

Entſtanden aus den vorigen durch die Aus-
bildung der artikulirten menſchlichen Sprache und die damit verbundene hoͤhere
Differenzirung des Kehlkopfs, ſowie durch die daraus folgende hoͤhere Entwicke-
lung des großen Gehirns. Lebten wahrſcheinlich erſt in der Quartaͤrperiode
(diluviale oder pleiſtocene, und alluviale oder recente Zeit bis zur Gegenwart).

Diejenigen Entwickelungsvorgaͤnge, welche zunaͤchſt die Entſte-
hung der affenaͤhnlichſten Menſchen aus den menſchenaͤhnlichſten Affen
veranlaßten, ſind in zwei Anpaſſungsthaͤtigkeiten der letzteren zu ſuchen,
welche vor allen anderen die Hebel zur Menſchwerdung waren: der
aufrechte Gang und die gegliederte Sprache.
Dieſe beiden
phyſiologiſchen Functionen entſtanden nothwendig zugleich mit
zwei entſprechenden morphologiſchen Umbildungen, mit denen
ſie in der engſten Wechſelwirkung ſtehen, naͤmlich Differenzirung
der beiden Gliedmaßenpaare und Differenzirung des
Kehlkopfs.
Die wichtige Vervollkommnung dieſer Organe und
ihrer Functionen mußte aber drittens nothwendig auf die Diffe-
renzirung des Gehirns und der davon abhaͤngigen
Seelenthaͤtigkeiten
maͤchtig zuruͤckwirken, und damit war der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0532" n="507"/><fw place="top" type="header">Thieri&#x017F;che Ahnenreihe des Men&#x017F;chen.</fw><lb/>
heute noch lebenden Orang, Gorilla und Schimpan&#x017F;e (S. 492). <hi rendition="#g">Ent&#x017F;tan-<lb/>
den</hi> aus der vorigen Stufe durch Verlu&#x017F;t des Schwanzes, theilwei&#x017F;en Ver-<lb/>
lu&#x017F;t der Behaarung und u&#x0364;berwiegende Entwickelung des Gehirntheiles des<lb/>
Scha&#x0364;dels u&#x0364;ber dem Ge&#x017F;ichtstheil de&#x017F;&#x017F;elben. <hi rendition="#g">Lebten</hi> wahr&#x017F;cheinlich in der<lb/>
zweiten Ha&#x0364;lfte der Tertia&#x0364;rzeit (miocene oder pliocene Periode).</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#g">Einundzwanzig&#x017F;te Stufe:</hi> <hi rendition="#b">Affenmen&#x017F;chen <hi rendition="#aq">(Pithecanthropi)</hi><lb/>
oder &#x017F;prachlo&#x017F;e Urmen&#x017F;chen <hi rendition="#aq">(Alali).</hi></hi> </head>
              <p>Unmittelbare Zwi&#x017F;chenform zwi&#x017F;chen<lb/>
der zwanzig&#x017F;ten und zweiundzwanzig&#x017F;ten Stufe, zwi&#x017F;chen den Men&#x017F;chenaffen und<lb/>
den echten Men&#x017F;chen. <hi rendition="#g">Ent&#x017F;tanden</hi> aus den Men&#x017F;chenaffen oder Anthro-<lb/>
poiden durch die voll&#x017F;ta&#x0364;ndige Angewo&#x0364;hnung an den aufrechten Gang, und die<lb/>
dem ent&#x017F;prechende &#x017F;ta&#x0364;rkere Differenzirung der vorderen Extremita&#x0364;t zur Greifhand,<lb/>
der hinteren zum Gangfuß. Obwohl &#x017F;ie durch die a&#x0364;ußere Ko&#x0364;rperbildung den<lb/>
echten Men&#x017F;chen wohl noch na&#x0364;her als den Men&#x017F;chenaffen &#x017F;tanden, fehlte ihnen<lb/>
doch noch das eigentlich charakteri&#x017F;ti&#x017F;che Merkmal des echten Men&#x017F;chen, die ar-<lb/>
tikulirte men&#x017F;chliche Wort&#x017F;prache und die damit verbundene bewußte Begriffs-<lb/>
bildung, beruhend auf ge&#x017F;teigerter Ab&#x017F;traction der An&#x017F;chauungen. <hi rendition="#g">Lebten</hi><lb/>
wahr&#x017F;cheinlich gegen Ende der Tertia&#x0364;rzeit und im Beginn der Quarta&#x0364;rzeit.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#g">Zweiundzwanzig&#x017F;te Stufe:</hi> <hi rendition="#b">Echte Men&#x017F;chen oder &#x017F;prechende<lb/>
Men&#x017F;chen <hi rendition="#aq">(Homines).</hi></hi> </head>
              <p><hi rendition="#g">Ent&#x017F;tanden</hi> aus den vorigen durch die Aus-<lb/>
bildung der artikulirten men&#x017F;chlichen Sprache und die damit verbundene ho&#x0364;here<lb/>
Differenzirung des Kehlkopfs, &#x017F;owie durch die daraus folgende ho&#x0364;here Entwicke-<lb/>
lung des großen Gehirns. <hi rendition="#g">Lebten</hi> wahr&#x017F;cheinlich er&#x017F;t in der Quarta&#x0364;rperiode<lb/>
(diluviale oder plei&#x017F;tocene, und alluviale oder recente Zeit bis zur Gegenwart).</p><lb/>
              <p>Diejenigen Entwickelungsvorga&#x0364;nge, welche zuna&#x0364;ch&#x017F;t die Ent&#x017F;te-<lb/>
hung der affena&#x0364;hnlich&#x017F;ten Men&#x017F;chen aus den men&#x017F;chena&#x0364;hnlich&#x017F;ten Affen<lb/>
veranlaßten, &#x017F;ind in zwei Anpa&#x017F;&#x017F;ungstha&#x0364;tigkeiten der letzteren zu &#x017F;uchen,<lb/>
welche vor allen anderen die Hebel zur Men&#x017F;chwerdung waren: <hi rendition="#g">der<lb/>
aufrechte Gang und die gegliederte Sprache.</hi> Die&#x017F;e beiden<lb/><hi rendition="#g">phy&#x017F;iologi&#x017F;chen</hi> Functionen ent&#x017F;tanden nothwendig zugleich mit<lb/>
zwei ent&#x017F;prechenden <hi rendition="#g">morphologi&#x017F;chen</hi> Umbildungen, mit denen<lb/>
&#x017F;ie in der eng&#x017F;ten Wech&#x017F;elwirkung &#x017F;tehen, na&#x0364;mlich <hi rendition="#g">Differenzirung<lb/>
der beiden Gliedmaßenpaare und Differenzirung des<lb/>
Kehlkopfs.</hi> Die wichtige Vervollkommnung die&#x017F;er Organe und<lb/>
ihrer Functionen mußte aber drittens nothwendig auf <hi rendition="#g">die Diffe-<lb/>
renzirung des Gehirns und der davon abha&#x0364;ngigen<lb/>
Seelentha&#x0364;tigkeiten</hi> ma&#x0364;chtig zuru&#x0364;ckwirken, und damit war der<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[507/0532] Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. heute noch lebenden Orang, Gorilla und Schimpanſe (S. 492). Entſtan- den aus der vorigen Stufe durch Verluſt des Schwanzes, theilweiſen Ver- luſt der Behaarung und uͤberwiegende Entwickelung des Gehirntheiles des Schaͤdels uͤber dem Geſichtstheil deſſelben. Lebten wahrſcheinlich in der zweiten Haͤlfte der Tertiaͤrzeit (miocene oder pliocene Periode). Einundzwanzigſte Stufe: Affenmenſchen (Pithecanthropi) oder ſprachloſe Urmenſchen (Alali). Unmittelbare Zwiſchenform zwiſchen der zwanzigſten und zweiundzwanzigſten Stufe, zwiſchen den Menſchenaffen und den echten Menſchen. Entſtanden aus den Menſchenaffen oder Anthro- poiden durch die vollſtaͤndige Angewoͤhnung an den aufrechten Gang, und die dem entſprechende ſtaͤrkere Differenzirung der vorderen Extremitaͤt zur Greifhand, der hinteren zum Gangfuß. Obwohl ſie durch die aͤußere Koͤrperbildung den echten Menſchen wohl noch naͤher als den Menſchenaffen ſtanden, fehlte ihnen doch noch das eigentlich charakteriſtiſche Merkmal des echten Menſchen, die ar- tikulirte menſchliche Wortſprache und die damit verbundene bewußte Begriffs- bildung, beruhend auf geſteigerter Abſtraction der Anſchauungen. Lebten wahrſcheinlich gegen Ende der Tertiaͤrzeit und im Beginn der Quartaͤrzeit. Zweiundzwanzigſte Stufe: Echte Menſchen oder ſprechende Menſchen (Homines). Entſtanden aus den vorigen durch die Aus- bildung der artikulirten menſchlichen Sprache und die damit verbundene hoͤhere Differenzirung des Kehlkopfs, ſowie durch die daraus folgende hoͤhere Entwicke- lung des großen Gehirns. Lebten wahrſcheinlich erſt in der Quartaͤrperiode (diluviale oder pleiſtocene, und alluviale oder recente Zeit bis zur Gegenwart). Diejenigen Entwickelungsvorgaͤnge, welche zunaͤchſt die Entſte- hung der affenaͤhnlichſten Menſchen aus den menſchenaͤhnlichſten Affen veranlaßten, ſind in zwei Anpaſſungsthaͤtigkeiten der letzteren zu ſuchen, welche vor allen anderen die Hebel zur Menſchwerdung waren: der aufrechte Gang und die gegliederte Sprache. Dieſe beiden phyſiologiſchen Functionen entſtanden nothwendig zugleich mit zwei entſprechenden morphologiſchen Umbildungen, mit denen ſie in der engſten Wechſelwirkung ſtehen, naͤmlich Differenzirung der beiden Gliedmaßenpaare und Differenzirung des Kehlkopfs. Die wichtige Vervollkommnung dieſer Organe und ihrer Functionen mußte aber drittens nothwendig auf die Diffe- renzirung des Gehirns und der davon abhaͤngigen Seelenthaͤtigkeiten maͤchtig zuruͤckwirken, und damit war der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/532
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/532>, abgerufen am 22.11.2024.