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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Urmensch (gemeinsame Stammform aller Menschenarten).

schief nach vorn gerichtet sind, und Gradzähner (Orthognathi),
bei denen die Kiefer wenig vorspringen, und die Vorderzähne senkrecht
stehen. Endlich kann man nach der Haarbildung als zwei große Haupt-
gruppen Wollhaarige (Ulotriches) und Schlichthaarige (Lis-
sotriches)
unterscheiden. Von den zehn angenommenen Menschen-
arten würden vier zur Reihe der Wollhaarigen und sechs zur Reihe der
Schlichthaarigen gehören. Jm Allgemeinen stehen die wollhaarigen
und die schiefzähnigen Menschen auf einer viel tieferen Entwickelungs-
stufe, und den Affen viel näher, als die schlichthaarigen und die gerad-
zähnigen Menschen. Dagegen finden sich Langköpfe nicht allein bei
allen wollhaarigen, sondern auch bei vielen schlichthaarigen Menschen
vor, obwohl hier Mittelköpfe und Kurzköpfe überwiegen.

Die erste Menschenart würde der längst ausgestorbene Urmensch
(Homo primigenius oder Pithecanthropus primigenius) bilden, den
wir nach der einheitlichen oder monophyletischen Descendenz-Hypothese
als die unmittelbare Uebergangsform vom menschenähnlichsten Affen
zum Menschen und als die gemeinsame Stammform aller übrigen
Menschenarten zu betrachten hätten (Vergl. Taf. VIII). Bei der außer-
ordentlichen Aehnlichkeit, welche sich zwischen den niedersten wollhaa-
rigen Menschen und den höchsten Menschenaffen selbst jetzt noch erhal-
ten hat, bedarf es nur geringer Einbildungskraft, um sich zwischen
Beiden eine vermittelnde Zwischenform und in dieser ein ungefähres
Bild von dem muthmaßlichen Urmenschen oder Affenmenschen vorzu-
stellen. Die Schädelform desselben wird sehr langköpfig und schief-
zähnig gewesen sein, das Haar wollig, die Hautfarbe dunkel, bräun-
lich oder schwärzlich. Die Behaarung des ganzen Körpers wird dich-
ter als bei allen jetzt lebenden Menschenarten gewesen sein, die Arme im
Verhältniß länger und stärker, die Beine dagegen kürzer und dünner,
mit ganz unentwickelten Waden; der Gang nur halb aufrecht, mit
stark eingebogenen Knieen. Von den jetzt existirenden Festländern kann
allen bekannten Anzeichen nach weder Amerika, noch Europa, noch
Australien die Heimath dieses Urmenschen, und somit die Urheimath
des Menschengeschlechts überhaupt gewesen sein. Vielmehr deuten die

Urmenſch (gemeinſame Stammform aller Menſchenarten).

ſchief nach vorn gerichtet ſind, und Gradzaͤhner (Orthognathi),
bei denen die Kiefer wenig vorſpringen, und die Vorderzaͤhne ſenkrecht
ſtehen. Endlich kann man nach der Haarbildung als zwei große Haupt-
gruppen Wollhaarige (Ulotriches) und Schlichthaarige (Lis-
sotriches)
unterſcheiden. Von den zehn angenommenen Menſchen-
arten wuͤrden vier zur Reihe der Wollhaarigen und ſechs zur Reihe der
Schlichthaarigen gehoͤren. Jm Allgemeinen ſtehen die wollhaarigen
und die ſchiefzaͤhnigen Menſchen auf einer viel tieferen Entwickelungs-
ſtufe, und den Affen viel naͤher, als die ſchlichthaarigen und die gerad-
zaͤhnigen Menſchen. Dagegen finden ſich Langkoͤpfe nicht allein bei
allen wollhaarigen, ſondern auch bei vielen ſchlichthaarigen Menſchen
vor, obwohl hier Mittelkoͤpfe und Kurzkoͤpfe uͤberwiegen.

Die erſte Menſchenart wuͤrde der laͤngſt ausgeſtorbene Urmenſch
(Homo primigenius oder Pithecanthropus primigenius) bilden, den
wir nach der einheitlichen oder monophyletiſchen Deſcendenz-Hypotheſe
als die unmittelbare Uebergangsform vom menſchenaͤhnlichſten Affen
zum Menſchen und als die gemeinſame Stammform aller uͤbrigen
Menſchenarten zu betrachten haͤtten (Vergl. Taf. VIII). Bei der außer-
ordentlichen Aehnlichkeit, welche ſich zwiſchen den niederſten wollhaa-
rigen Menſchen und den hoͤchſten Menſchenaffen ſelbſt jetzt noch erhal-
ten hat, bedarf es nur geringer Einbildungskraft, um ſich zwiſchen
Beiden eine vermittelnde Zwiſchenform und in dieſer ein ungefaͤhres
Bild von dem muthmaßlichen Urmenſchen oder Affenmenſchen vorzu-
ſtellen. Die Schaͤdelform deſſelben wird ſehr langkoͤpfig und ſchief-
zaͤhnig geweſen ſein, das Haar wollig, die Hautfarbe dunkel, braͤun-
lich oder ſchwaͤrzlich. Die Behaarung des ganzen Koͤrpers wird dich-
ter als bei allen jetzt lebenden Menſchenarten geweſen ſein, die Arme im
Verhaͤltniß laͤnger und ſtaͤrker, die Beine dagegen kuͤrzer und duͤnner,
mit ganz unentwickelten Waden; der Gang nur halb aufrecht, mit
ſtark eingebogenen Knieen. Von den jetzt exiſtirenden Feſtlaͤndern kann
allen bekannten Anzeichen nach weder Amerika, noch Europa, noch
Auſtralien die Heimath dieſes Urmenſchen, und ſomit die Urheimath
des Menſchengeſchlechts uͤberhaupt geweſen ſein. Vielmehr deuten die

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[514/0539] Urmenſch (gemeinſame Stammform aller Menſchenarten). ſchief nach vorn gerichtet ſind, und Gradzaͤhner (Orthognathi), bei denen die Kiefer wenig vorſpringen, und die Vorderzaͤhne ſenkrecht ſtehen. Endlich kann man nach der Haarbildung als zwei große Haupt- gruppen Wollhaarige (Ulotriches) und Schlichthaarige (Lis- sotriches) unterſcheiden. Von den zehn angenommenen Menſchen- arten wuͤrden vier zur Reihe der Wollhaarigen und ſechs zur Reihe der Schlichthaarigen gehoͤren. Jm Allgemeinen ſtehen die wollhaarigen und die ſchiefzaͤhnigen Menſchen auf einer viel tieferen Entwickelungs- ſtufe, und den Affen viel naͤher, als die ſchlichthaarigen und die gerad- zaͤhnigen Menſchen. Dagegen finden ſich Langkoͤpfe nicht allein bei allen wollhaarigen, ſondern auch bei vielen ſchlichthaarigen Menſchen vor, obwohl hier Mittelkoͤpfe und Kurzkoͤpfe uͤberwiegen. Die erſte Menſchenart wuͤrde der laͤngſt ausgeſtorbene Urmenſch (Homo primigenius oder Pithecanthropus primigenius) bilden, den wir nach der einheitlichen oder monophyletiſchen Deſcendenz-Hypotheſe als die unmittelbare Uebergangsform vom menſchenaͤhnlichſten Affen zum Menſchen und als die gemeinſame Stammform aller uͤbrigen Menſchenarten zu betrachten haͤtten (Vergl. Taf. VIII). Bei der außer- ordentlichen Aehnlichkeit, welche ſich zwiſchen den niederſten wollhaa- rigen Menſchen und den hoͤchſten Menſchenaffen ſelbſt jetzt noch erhal- ten hat, bedarf es nur geringer Einbildungskraft, um ſich zwiſchen Beiden eine vermittelnde Zwiſchenform und in dieſer ein ungefaͤhres Bild von dem muthmaßlichen Urmenſchen oder Affenmenſchen vorzu- ſtellen. Die Schaͤdelform deſſelben wird ſehr langkoͤpfig und ſchief- zaͤhnig geweſen ſein, das Haar wollig, die Hautfarbe dunkel, braͤun- lich oder ſchwaͤrzlich. Die Behaarung des ganzen Koͤrpers wird dich- ter als bei allen jetzt lebenden Menſchenarten geweſen ſein, die Arme im Verhaͤltniß laͤnger und ſtaͤrker, die Beine dagegen kuͤrzer und duͤnner, mit ganz unentwickelten Waden; der Gang nur halb aufrecht, mit ſtark eingebogenen Knieen. Von den jetzt exiſtirenden Feſtlaͤndern kann allen bekannten Anzeichen nach weder Amerika, noch Europa, noch Auſtralien die Heimath dieſes Urmenſchen, und ſomit die Urheimath des Menſchengeſchlechts uͤberhaupt geweſen ſein. Vielmehr deuten die

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/539>, abgerufen am 22.11.2024.