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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Unermeßlich lange Zeiträume der organischen Erdgeschichte.
ist sehr gleichgültig, wie hoch man annähernd die unermeßliche Länge
dieser Zeiträume schätzen mag, weil wir in der That nicht im Stande
sind, mittelst unserer beschränkten Einbildungskraft uns eine wirkliche
Anschauung von diesen Zeiträumen zu bilden, und weil wir auch keine
sichere mathematische Basis, wie in der Astronomie besitzen, um nur
die ungefähre Länge des Maaßstabes irgendwie in Zahlen festzustellen.
Nur dagegen müssen wir uns auf das bestimmteste verwahren, daß
wir in dieser außerordentlichen, unsere Vorstellungskraft vollständig
übersteigenden Länge der Zeiträume irgend einen Grund gegen die Ent-
wickelungslehre sehen könnten. Wie ich Jhnen bereits in einem frühe-
ren Vortrage auseinandersetzte, ist es im Gegentheil vom Standpunkte
der strengen Philosophie das Gerathenste, diese Schöpfungsperioden
möglichst lang vorauszusetzen, und wir laufen um so weniger Gefahr,
uns in dieser Beziehung in unwahrscheinliche Hypothesen zu verlieren,
je größer wir die Zeiträume für die organischen Entwickelungsvorgänge
annehmen (S. 103). Je länger wir z. B. die Anteocenperiode an-
nehmen, desto eher können wir begreifen, wie innerhalb derselben die
wichtigen Umbildungen erfolgten, welche die Fauna und Flora der
Kreidezeit so scharf von derjenigen der Eocenzeit trennen. Die große
Abneigung, welche die meisten Menschen gegen die Annahme so uner-
meßlicher Zeiträume haben, rührt größtentheils davon her, daß wir
in der Jugend mit der Vorstellung groß gezogen werden, die ganze
Erde sei nur einige tausend Jahre alt. Außerdem ist das Menschen-
leben, welches höchstens den Werth eines Jahrhunderts erreicht, eine
außerordentlich kurze Zeitspanne, welche sich am wenigsten eignet, als
Maaßeinheit für jene geologischen Perioden zu gelten. Denken Sie
nur im Vergleiche damit an die fünfzig mal längere Lebensdauer man-
cher Bäume, z. B. der Drachenbäume (Dracaena) und Affenbrodbäume
(Adansonia), deren individuelles Leben einen Zeitraum von fünftau-
tausend Jahren übersteigt; und denken Sie andrerseits an die Kürze
des individuellen Lebens bei manchen niederen Thieren, z. B. bei den
Jnfusorien, wo das Jndividuum als solches nur wenige Tage, oder
selbst nur wenige Stunden lebt. Diese Vergleichung stellt uns die Re-

Unermeßlich lange Zeitraͤume der organiſchen Erdgeſchichte.
iſt ſehr gleichguͤltig, wie hoch man annaͤhernd die unermeßliche Laͤnge
dieſer Zeitraͤume ſchaͤtzen mag, weil wir in der That nicht im Stande
ſind, mittelſt unſerer beſchraͤnkten Einbildungskraft uns eine wirkliche
Anſchauung von dieſen Zeitraͤumen zu bilden, und weil wir auch keine
ſichere mathematiſche Baſis, wie in der Aſtronomie beſitzen, um nur
die ungefaͤhre Laͤnge des Maaßſtabes irgendwie in Zahlen feſtzuſtellen.
Nur dagegen muͤſſen wir uns auf das beſtimmteſte verwahren, daß
wir in dieſer außerordentlichen, unſere Vorſtellungskraft vollſtaͤndig
uͤberſteigenden Laͤnge der Zeitraͤume irgend einen Grund gegen die Ent-
wickelungslehre ſehen koͤnnten. Wie ich Jhnen bereits in einem fruͤhe-
ren Vortrage auseinanderſetzte, iſt es im Gegentheil vom Standpunkte
der ſtrengen Philoſophie das Gerathenſte, dieſe Schoͤpfungsperioden
moͤglichſt lang vorauszuſetzen, und wir laufen um ſo weniger Gefahr,
uns in dieſer Beziehung in unwahrſcheinliche Hypotheſen zu verlieren,
je groͤßer wir die Zeitraͤume fuͤr die organiſchen Entwickelungsvorgaͤnge
annehmen (S. 103). Je laͤnger wir z. B. die Anteocenperiode an-
nehmen, deſto eher koͤnnen wir begreifen, wie innerhalb derſelben die
wichtigen Umbildungen erfolgten, welche die Fauna und Flora der
Kreidezeit ſo ſcharf von derjenigen der Eocenzeit trennen. Die große
Abneigung, welche die meiſten Menſchen gegen die Annahme ſo uner-
meßlicher Zeitraͤume haben, ruͤhrt groͤßtentheils davon her, daß wir
in der Jugend mit der Vorſtellung groß gezogen werden, die ganze
Erde ſei nur einige tauſend Jahre alt. Außerdem iſt das Menſchen-
leben, welches hoͤchſtens den Werth eines Jahrhunderts erreicht, eine
außerordentlich kurze Zeitſpanne, welche ſich am wenigſten eignet, als
Maaßeinheit fuͤr jene geologiſchen Perioden zu gelten. Denken Sie
nur im Vergleiche damit an die fuͤnfzig mal laͤngere Lebensdauer man-
cher Baͤume, z. B. der Drachenbaͤume (Dracaena) und Affenbrodbaͤume
(Adansonia), deren individuelles Leben einen Zeitraum von fuͤnftau-
tauſend Jahren uͤberſteigt; und denken Sie andrerſeits an die Kuͤrze
des individuellen Lebens bei manchen niederen Thieren, z. B. bei den
Jnfuſorien, wo das Jndividuum als ſolches nur wenige Tage, oder
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[524/0549] Unermeßlich lange Zeitraͤume der organiſchen Erdgeſchichte. iſt ſehr gleichguͤltig, wie hoch man annaͤhernd die unermeßliche Laͤnge dieſer Zeitraͤume ſchaͤtzen mag, weil wir in der That nicht im Stande ſind, mittelſt unſerer beſchraͤnkten Einbildungskraft uns eine wirkliche Anſchauung von dieſen Zeitraͤumen zu bilden, und weil wir auch keine ſichere mathematiſche Baſis, wie in der Aſtronomie beſitzen, um nur die ungefaͤhre Laͤnge des Maaßſtabes irgendwie in Zahlen feſtzuſtellen. Nur dagegen muͤſſen wir uns auf das beſtimmteſte verwahren, daß wir in dieſer außerordentlichen, unſere Vorſtellungskraft vollſtaͤndig uͤberſteigenden Laͤnge der Zeitraͤume irgend einen Grund gegen die Ent- wickelungslehre ſehen koͤnnten. Wie ich Jhnen bereits in einem fruͤhe- ren Vortrage auseinanderſetzte, iſt es im Gegentheil vom Standpunkte der ſtrengen Philoſophie das Gerathenſte, dieſe Schoͤpfungsperioden moͤglichſt lang vorauszuſetzen, und wir laufen um ſo weniger Gefahr, uns in dieſer Beziehung in unwahrſcheinliche Hypotheſen zu verlieren, je groͤßer wir die Zeitraͤume fuͤr die organiſchen Entwickelungsvorgaͤnge annehmen (S. 103). Je laͤnger wir z. B. die Anteocenperiode an- nehmen, deſto eher koͤnnen wir begreifen, wie innerhalb derſelben die wichtigen Umbildungen erfolgten, welche die Fauna und Flora der Kreidezeit ſo ſcharf von derjenigen der Eocenzeit trennen. Die große Abneigung, welche die meiſten Menſchen gegen die Annahme ſo uner- meßlicher Zeitraͤume haben, ruͤhrt groͤßtentheils davon her, daß wir in der Jugend mit der Vorſtellung groß gezogen werden, die ganze Erde ſei nur einige tauſend Jahre alt. Außerdem iſt das Menſchen- leben, welches hoͤchſtens den Werth eines Jahrhunderts erreicht, eine außerordentlich kurze Zeitſpanne, welche ſich am wenigſten eignet, als Maaßeinheit fuͤr jene geologiſchen Perioden zu gelten. Denken Sie nur im Vergleiche damit an die fuͤnfzig mal laͤngere Lebensdauer man- cher Baͤume, z. B. der Drachenbaͤume (Dracaena) und Affenbrodbaͤume (Adansonia), deren individuelles Leben einen Zeitraum von fuͤnftau- tauſend Jahren uͤberſteigt; und denken Sie andrerſeits an die Kuͤrze des individuellen Lebens bei manchen niederen Thieren, z. B. bei den Jnfuſorien, wo das Jndividuum als ſolches nur wenige Tage, oder ſelbſt nur wenige Stunden lebt. Dieſe Vergleichung ſtellt uns die Re-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/549>, abgerufen am 22.11.2024.