Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Erfordernisse für das Verständniß der Abstammungslehre.
andauernde Vererbung von erworbenen Gehirnanpassungen aus ur-
sprünglich empirischen "Erkenntnissen a posteriori" entstanden (S. 26).

Die so eben besprochenen und widerlegten Einwände gegen die
Descendenztheorie dürften wohl die wichtigsten sein, welche ihr ent-
gegengehalten worden sind. Jch glaube Jhnen deren Grundlosigkeit
genügend dargethan zu haben. Die zahlreichen übrigen Einwürfe,
welche außerdem noch gegen die Entwickelungslehre im Allgemeinen
oder gegen den biologischen Theil derselben, die Abstammungslehre,
im Besonderen erhoben worden sind, beruhen entweder auf einer sol-
chen Unkenntniß der empirisch festgestellten Thatsachen, oder auf einem
solchen Mangel an richtigem Verständniß derselben, und an Fähigkeit,
die daraus nothwendig sich ergebenden Folgeschlüsse zu ziehen, daß es
wirklich nicht der Mühe lohnen würde, hier näher auf ihre Widerle-
legung einzugehen. Nur einige allgemeine Gesichtspunkte möchte ich
Jhnen in dieser Beziehung noch mit einigen Worten nahe legen.

Zunächst ist hinsichtlich des ersterwähnten Punktes zu bemerken,
daß, um die Abstammungslehre vollständig zu verstehen, und sich
ganz von ihrer unerschütterlichen Wahrheit zu überzeugen, ein allge-
meiner Ueberblick über die Gesammtheit des biologischen Erscheinungs-
gebietes unerläßlich ist. Die Descendenztheorie ist eine bio-
logische Theorie,
und man darf daher mit Fug und Recht ver-
langen, daß diejenigen Leute, welche darüber ein endgültiges Urtheil
fällen wollen, den erforderlichen Grad biologischer Bildung besitzen.
Dazu genügt es nicht, daß sie in diesem oder jenem Gebiete der Zoo-
logie, Botanik und Protistik specielle Erfahrungskenntnisse besitzen.
Vielmehr müssen sie nothwendig eine allgemeine Uebersicht
der gesammten Erscheinungsreihen
wenigstens in einem der
drei organischen Reiche besitzen. Sie müssen wissen, welche allgemei-
nen Gesetze aus der vergleichenden Morphologie und Physiologie der
Organismen, insbesondere aus der vergleichenden Anatomie, aus der
individuellen und paläontologischen Entwickelungsgeschichte u. s. w. sich
ergeben, und sie müssen eine Vorstellung von dem tiefen mechani-
schen, ursächlichen Zusammenhang
haben, in dem alle jene

34 *

Erforderniſſe fuͤr das Verſtaͤndniß der Abſtammungslehre.
andauernde Vererbung von erworbenen Gehirnanpaſſungen aus ur-
ſpruͤnglich empiriſchen „Erkenntniſſen a posteriori“ entſtanden (S. 26).

Die ſo eben beſprochenen und widerlegten Einwaͤnde gegen die
Deſcendenztheorie duͤrften wohl die wichtigſten ſein, welche ihr ent-
gegengehalten worden ſind. Jch glaube Jhnen deren Grundloſigkeit
genuͤgend dargethan zu haben. Die zahlreichen uͤbrigen Einwuͤrfe,
welche außerdem noch gegen die Entwickelungslehre im Allgemeinen
oder gegen den biologiſchen Theil derſelben, die Abſtammungslehre,
im Beſonderen erhoben worden ſind, beruhen entweder auf einer ſol-
chen Unkenntniß der empiriſch feſtgeſtellten Thatſachen, oder auf einem
ſolchen Mangel an richtigem Verſtaͤndniß derſelben, und an Faͤhigkeit,
die daraus nothwendig ſich ergebenden Folgeſchluͤſſe zu ziehen, daß es
wirklich nicht der Muͤhe lohnen wuͤrde, hier naͤher auf ihre Widerle-
legung einzugehen. Nur einige allgemeine Geſichtspunkte moͤchte ich
Jhnen in dieſer Beziehung noch mit einigen Worten nahe legen.

Zunaͤchſt iſt hinſichtlich des erſterwaͤhnten Punktes zu bemerken,
daß, um die Abſtammungslehre vollſtaͤndig zu verſtehen, und ſich
ganz von ihrer unerſchuͤtterlichen Wahrheit zu uͤberzeugen, ein allge-
meiner Ueberblick uͤber die Geſammtheit des biologiſchen Erſcheinungs-
gebietes unerlaͤßlich iſt. Die Deſcendenztheorie iſt eine bio-
logiſche Theorie,
und man darf daher mit Fug und Recht ver-
langen, daß diejenigen Leute, welche daruͤber ein endguͤltiges Urtheil
faͤllen wollen, den erforderlichen Grad biologiſcher Bildung beſitzen.
Dazu genuͤgt es nicht, daß ſie in dieſem oder jenem Gebiete der Zoo-
logie, Botanik und Protiſtik ſpecielle Erfahrungskenntniſſe beſitzen.
Vielmehr muͤſſen ſie nothwendig eine allgemeine Ueberſicht
der geſammten Erſcheinungsreihen
wenigſtens in einem der
drei organiſchen Reiche beſitzen. Sie muͤſſen wiſſen, welche allgemei-
nen Geſetze aus der vergleichenden Morphologie und Phyſiologie der
Organismen, insbeſondere aus der vergleichenden Anatomie, aus der
individuellen und palaͤontologiſchen Entwickelungsgeſchichte u. ſ. w. ſich
ergeben, und ſie muͤſſen eine Vorſtellung von dem tiefen mechani-
ſchen, urſaͤchlichen Zuſammenhang
haben, in dem alle jene

34 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0556" n="531"/><fw place="top" type="header">Erforderni&#x017F;&#x017F;e fu&#x0364;r das Ver&#x017F;ta&#x0364;ndniß der Ab&#x017F;tammungslehre.</fw><lb/>
andauernde Vererbung von erworbenen Gehirnanpa&#x017F;&#x017F;ungen aus ur-<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;nglich empiri&#x017F;chen &#x201E;Erkenntni&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#aq">a posteriori&#x201C;</hi> ent&#x017F;tanden (S. 26).</p><lb/>
        <p>Die &#x017F;o eben be&#x017F;prochenen und widerlegten Einwa&#x0364;nde gegen die<lb/>
De&#x017F;cendenztheorie du&#x0364;rften wohl die wichtig&#x017F;ten &#x017F;ein, welche ihr ent-<lb/>
gegengehalten worden &#x017F;ind. Jch glaube Jhnen deren Grundlo&#x017F;igkeit<lb/>
genu&#x0364;gend dargethan zu haben. Die zahlreichen u&#x0364;brigen Einwu&#x0364;rfe,<lb/>
welche außerdem noch gegen die Entwickelungslehre im Allgemeinen<lb/>
oder gegen den biologi&#x017F;chen Theil der&#x017F;elben, die Ab&#x017F;tammungslehre,<lb/>
im Be&#x017F;onderen erhoben worden &#x017F;ind, beruhen entweder auf einer &#x017F;ol-<lb/>
chen Unkenntniß der empiri&#x017F;ch fe&#x017F;tge&#x017F;tellten That&#x017F;achen, oder auf einem<lb/>
&#x017F;olchen Mangel an richtigem Ver&#x017F;ta&#x0364;ndniß der&#x017F;elben, und an Fa&#x0364;higkeit,<lb/>
die daraus nothwendig &#x017F;ich ergebenden Folge&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e zu ziehen, daß es<lb/>
wirklich nicht der Mu&#x0364;he lohnen wu&#x0364;rde, hier na&#x0364;her auf ihre Widerle-<lb/>
legung einzugehen. Nur einige allgemeine Ge&#x017F;ichtspunkte mo&#x0364;chte ich<lb/>
Jhnen in die&#x017F;er Beziehung noch mit einigen Worten nahe legen.</p><lb/>
        <p>Zuna&#x0364;ch&#x017F;t i&#x017F;t hin&#x017F;ichtlich des er&#x017F;terwa&#x0364;hnten Punktes zu bemerken,<lb/>
daß, um die Ab&#x017F;tammungslehre voll&#x017F;ta&#x0364;ndig zu ver&#x017F;tehen, und &#x017F;ich<lb/>
ganz von ihrer uner&#x017F;chu&#x0364;tterlichen Wahrheit zu u&#x0364;berzeugen, ein allge-<lb/>
meiner Ueberblick u&#x0364;ber die Ge&#x017F;ammtheit des biologi&#x017F;chen Er&#x017F;cheinungs-<lb/>
gebietes unerla&#x0364;ßlich i&#x017F;t. <hi rendition="#g">Die De&#x017F;cendenztheorie i&#x017F;t eine bio-<lb/>
logi&#x017F;che Theorie,</hi> und man darf daher mit Fug und Recht ver-<lb/>
langen, daß diejenigen Leute, welche daru&#x0364;ber ein endgu&#x0364;ltiges Urtheil<lb/>
fa&#x0364;llen wollen, den erforderlichen Grad biologi&#x017F;cher Bildung be&#x017F;itzen.<lb/>
Dazu genu&#x0364;gt es nicht, daß &#x017F;ie in die&#x017F;em oder jenem Gebiete der Zoo-<lb/>
logie, Botanik und Proti&#x017F;tik &#x017F;pecielle Erfahrungskenntni&#x017F;&#x017F;e be&#x017F;itzen.<lb/>
Vielmehr mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie nothwendig eine <hi rendition="#g">allgemeine Ueber&#x017F;icht<lb/>
der ge&#x017F;ammten Er&#x017F;cheinungsreihen</hi> wenig&#x017F;tens in einem der<lb/>
drei organi&#x017F;chen Reiche be&#x017F;itzen. Sie mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wi&#x017F;&#x017F;en, welche allgemei-<lb/>
nen Ge&#x017F;etze aus der vergleichenden Morphologie und Phy&#x017F;iologie der<lb/>
Organismen, insbe&#x017F;ondere aus der vergleichenden Anatomie, aus der<lb/>
individuellen und pala&#x0364;ontologi&#x017F;chen Entwickelungsge&#x017F;chichte u. &#x017F;. w. &#x017F;ich<lb/>
ergeben, und &#x017F;ie mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en eine Vor&#x017F;tellung von dem tiefen <hi rendition="#g">mechani-<lb/>
&#x017F;chen, ur&#x017F;a&#x0364;chlichen Zu&#x017F;ammenhang</hi> haben, in dem alle jene<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">34 *</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[531/0556] Erforderniſſe fuͤr das Verſtaͤndniß der Abſtammungslehre. andauernde Vererbung von erworbenen Gehirnanpaſſungen aus ur- ſpruͤnglich empiriſchen „Erkenntniſſen a posteriori“ entſtanden (S. 26). Die ſo eben beſprochenen und widerlegten Einwaͤnde gegen die Deſcendenztheorie duͤrften wohl die wichtigſten ſein, welche ihr ent- gegengehalten worden ſind. Jch glaube Jhnen deren Grundloſigkeit genuͤgend dargethan zu haben. Die zahlreichen uͤbrigen Einwuͤrfe, welche außerdem noch gegen die Entwickelungslehre im Allgemeinen oder gegen den biologiſchen Theil derſelben, die Abſtammungslehre, im Beſonderen erhoben worden ſind, beruhen entweder auf einer ſol- chen Unkenntniß der empiriſch feſtgeſtellten Thatſachen, oder auf einem ſolchen Mangel an richtigem Verſtaͤndniß derſelben, und an Faͤhigkeit, die daraus nothwendig ſich ergebenden Folgeſchluͤſſe zu ziehen, daß es wirklich nicht der Muͤhe lohnen wuͤrde, hier naͤher auf ihre Widerle- legung einzugehen. Nur einige allgemeine Geſichtspunkte moͤchte ich Jhnen in dieſer Beziehung noch mit einigen Worten nahe legen. Zunaͤchſt iſt hinſichtlich des erſterwaͤhnten Punktes zu bemerken, daß, um die Abſtammungslehre vollſtaͤndig zu verſtehen, und ſich ganz von ihrer unerſchuͤtterlichen Wahrheit zu uͤberzeugen, ein allge- meiner Ueberblick uͤber die Geſammtheit des biologiſchen Erſcheinungs- gebietes unerlaͤßlich iſt. Die Deſcendenztheorie iſt eine bio- logiſche Theorie, und man darf daher mit Fug und Recht ver- langen, daß diejenigen Leute, welche daruͤber ein endguͤltiges Urtheil faͤllen wollen, den erforderlichen Grad biologiſcher Bildung beſitzen. Dazu genuͤgt es nicht, daß ſie in dieſem oder jenem Gebiete der Zoo- logie, Botanik und Protiſtik ſpecielle Erfahrungskenntniſſe beſitzen. Vielmehr muͤſſen ſie nothwendig eine allgemeine Ueberſicht der geſammten Erſcheinungsreihen wenigſtens in einem der drei organiſchen Reiche beſitzen. Sie muͤſſen wiſſen, welche allgemei- nen Geſetze aus der vergleichenden Morphologie und Phyſiologie der Organismen, insbeſondere aus der vergleichenden Anatomie, aus der individuellen und palaͤontologiſchen Entwickelungsgeſchichte u. ſ. w. ſich ergeben, und ſie muͤſſen eine Vorſtellung von dem tiefen mechani- ſchen, urſaͤchlichen Zuſammenhang haben, in dem alle jene 34 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/556
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 531. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/556>, abgerufen am 22.11.2024.