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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Wechselwirkung zwischen Empirie und Philosophie.
drücklich hervorgehoben werden, daß nicht nur eine allgemeine Ueber-
sicht des ganzen biologischen Erscheinungsgebiets, sondern auch
ein philosophisches Verständniß desselben nothwendige Vor-
bedingungen für die überzeugte Annahme der Descendenztheorie sind.
Nun finden Sie aber gerade diese unerläßlichen Vorbedingungen bei
dem größten Theil der heutigen Naturforscher leider keineswegs erfüllt.
Die Unmasse von neuen empirischen Thatsachen, mit denen uns die
riesigen Fortschritte der neueren Naturwissenschaft bekannt gemacht
haben, hat eine vorherrschende Neigung für das specielle Studium
einzelner Erscheinungen und kleiner engbegrenzter Erfahrungsgebiete
herbeigeführt. Darüber wird die Erkenntniß der übrigen Theile und
namentlich des großen umfassenden Naturganzen meist völlig vernach-
lässigt. Jeder, der gesunde Augen und ein Mikroskop zum Beob-
achten, Fleiß und Geduld zum Sitzen hat, kann heutzutage durch
mikroskopische "Entdeckungen" eine gewisse Berühmtheit erlangen,
ohne doch den Namen eines Naturforschers zu verdienen. Dieser ge-
bührt nur dem, der nicht bloß die einzelnen Erscheinungen zu kennen,
sondern auch deren ursächlichen Zusammenhang zu erkennen strebt.
Noch heute untersuchen und beschreiben die meisten Paläontologen die
Versteinerungen, ohne die wichtigsten Thatsachen der Embryologie zu
kennen. Andrerseits verfolgen die Embryologen die Entwickelungs-
geschichte des einzelnen organischen Jndividuums, ohne eine Ahnung
von der paläontologischen Entwickelungsgeschichte des ganzen zuge-
hörigen Stammes zu haben, von welcher die Versteinerungen berichten.
Und doch stehen diese beiden Zweige der organischen Entwickelungsge-
schichte, die Ontogenie oder die Geschichte des Jndividuums, und die
Phylogenie oder die Geschichte des Stammes, im engsten ursächlichen
Zusammenhang, und die eine ist ohne die andere gar nicht zu ver-
stehen. Aehnlich steht es mit dem systematischen und dem anatomi-
schen Theile der Biologie. Noch heute giebt es in der Zoologie und
Botanik zahlreiche Systematiker, welche in dem Jrrthum arbeiten,
durch bloße sorgfältige Untersuchung der äußeren und leicht zugänglichen
Körperformen, ohne die tiefere Kenntniß ihres inneren Baues, das

Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie.
druͤcklich hervorgehoben werden, daß nicht nur eine allgemeine Ueber-
ſicht des ganzen biologiſchen Erſcheinungsgebiets, ſondern auch
ein philoſophiſches Verſtaͤndniß deſſelben nothwendige Vor-
bedingungen fuͤr die uͤberzeugte Annahme der Deſcendenztheorie ſind.
Nun finden Sie aber gerade dieſe unerlaͤßlichen Vorbedingungen bei
dem groͤßten Theil der heutigen Naturforſcher leider keineswegs erfuͤllt.
Die Unmaſſe von neuen empiriſchen Thatſachen, mit denen uns die
rieſigen Fortſchritte der neueren Naturwiſſenſchaft bekannt gemacht
haben, hat eine vorherrſchende Neigung fuͤr das ſpecielle Studium
einzelner Erſcheinungen und kleiner engbegrenzter Erfahrungsgebiete
herbeigefuͤhrt. Daruͤber wird die Erkenntniß der uͤbrigen Theile und
namentlich des großen umfaſſenden Naturganzen meiſt voͤllig vernach-
laͤſſigt. Jeder, der geſunde Augen und ein Mikroſkop zum Beob-
achten, Fleiß und Geduld zum Sitzen hat, kann heutzutage durch
mikroſkopiſche „Entdeckungen“ eine gewiſſe Beruͤhmtheit erlangen,
ohne doch den Namen eines Naturforſchers zu verdienen. Dieſer ge-
buͤhrt nur dem, der nicht bloß die einzelnen Erſcheinungen zu kennen,
ſondern auch deren urſaͤchlichen Zuſammenhang zu erkennen ſtrebt.
Noch heute unterſuchen und beſchreiben die meiſten Palaͤontologen die
Verſteinerungen, ohne die wichtigſten Thatſachen der Embryologie zu
kennen. Andrerſeits verfolgen die Embryologen die Entwickelungs-
geſchichte des einzelnen organiſchen Jndividuums, ohne eine Ahnung
von der palaͤontologiſchen Entwickelungsgeſchichte des ganzen zuge-
hoͤrigen Stammes zu haben, von welcher die Verſteinerungen berichten.
Und doch ſtehen dieſe beiden Zweige der organiſchen Entwickelungsge-
ſchichte, die Ontogenie oder die Geſchichte des Jndividuums, und die
Phylogenie oder die Geſchichte des Stammes, im engſten urſaͤchlichen
Zuſammenhang, und die eine iſt ohne die andere gar nicht zu ver-
ſtehen. Aehnlich ſteht es mit dem ſyſtematiſchen und dem anatomi-
ſchen Theile der Biologie. Noch heute giebt es in der Zoologie und
Botanik zahlreiche Syſtematiker, welche in dem Jrrthum arbeiten,
durch bloße ſorgfaͤltige Unterſuchung der aͤußeren und leicht zugaͤnglichen
Koͤrperformen, ohne die tiefere Kenntniß ihres inneren Baues, das

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[533/0558] Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie. druͤcklich hervorgehoben werden, daß nicht nur eine allgemeine Ueber- ſicht des ganzen biologiſchen Erſcheinungsgebiets, ſondern auch ein philoſophiſches Verſtaͤndniß deſſelben nothwendige Vor- bedingungen fuͤr die uͤberzeugte Annahme der Deſcendenztheorie ſind. Nun finden Sie aber gerade dieſe unerlaͤßlichen Vorbedingungen bei dem groͤßten Theil der heutigen Naturforſcher leider keineswegs erfuͤllt. Die Unmaſſe von neuen empiriſchen Thatſachen, mit denen uns die rieſigen Fortſchritte der neueren Naturwiſſenſchaft bekannt gemacht haben, hat eine vorherrſchende Neigung fuͤr das ſpecielle Studium einzelner Erſcheinungen und kleiner engbegrenzter Erfahrungsgebiete herbeigefuͤhrt. Daruͤber wird die Erkenntniß der uͤbrigen Theile und namentlich des großen umfaſſenden Naturganzen meiſt voͤllig vernach- laͤſſigt. Jeder, der geſunde Augen und ein Mikroſkop zum Beob- achten, Fleiß und Geduld zum Sitzen hat, kann heutzutage durch mikroſkopiſche „Entdeckungen“ eine gewiſſe Beruͤhmtheit erlangen, ohne doch den Namen eines Naturforſchers zu verdienen. Dieſer ge- buͤhrt nur dem, der nicht bloß die einzelnen Erſcheinungen zu kennen, ſondern auch deren urſaͤchlichen Zuſammenhang zu erkennen ſtrebt. Noch heute unterſuchen und beſchreiben die meiſten Palaͤontologen die Verſteinerungen, ohne die wichtigſten Thatſachen der Embryologie zu kennen. Andrerſeits verfolgen die Embryologen die Entwickelungs- geſchichte des einzelnen organiſchen Jndividuums, ohne eine Ahnung von der palaͤontologiſchen Entwickelungsgeſchichte des ganzen zuge- hoͤrigen Stammes zu haben, von welcher die Verſteinerungen berichten. Und doch ſtehen dieſe beiden Zweige der organiſchen Entwickelungsge- ſchichte, die Ontogenie oder die Geſchichte des Jndividuums, und die Phylogenie oder die Geſchichte des Stammes, im engſten urſaͤchlichen Zuſammenhang, und die eine iſt ohne die andere gar nicht zu ver- ſtehen. Aehnlich ſteht es mit dem ſyſtematiſchen und dem anatomi- ſchen Theile der Biologie. Noch heute giebt es in der Zoologie und Botanik zahlreiche Syſtematiker, welche in dem Jrrthum arbeiten, durch bloße ſorgfaͤltige Unterſuchung der aͤußeren und leicht zugaͤnglichen Koͤrperformen, ohne die tiefere Kenntniß ihres inneren Baues, das

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 533. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/558>, abgerufen am 22.11.2024.