Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Descendenztheorie und Descendenzhypothese. Schlüsse diese Hypothese deductiv gründen. Daher besitzen alle ein-zelnen Versuche zur Erkenntniß des Stammbaums irgend einer Orga- nismengruppe immer nur einen zeitweiligen und bedingten Werth, und unsere specielle Hypothese darüber wird immer mehr vervoll- kommnet werden, je weiter wir in der vergleichenden Anatomie, Onto- genie und Paläontologie der betreffenden Gruppe fortschreiten. Je mehr wir uns dabei aber in genealogische Einzelheiten verlieren, je weiter wir die einzelnen Aeste und Zweige des Stammbaums verfol- gen, desto unsicherer und subjectiver wird wegen der Unvollständigkeit der empirischen Grundlagen unsere specielle Abstammungs-Hypo- these. Dies thut jedoch der Sicherheit der generellen Abstammungs- Theorie, welche das unentbehrliche Fundament für jedes tiefere Verständniß der biologischen Erscheinungen ist, keinen Abbruch. So erleidet es denn auch keinen Zweifel, daß wir die Abstammung des Menschen zunächst aus affenartigen, weiterhin aus niederen Säuge- thieren, und so immer weiter aus immer tieferen Stufen des Wirbel- thierstammes, bis zu dessen tiefsten wirbellosen Wurzeln hinunter, als all- gemeine Theorie mit voller Sicherheit behaupten können und müs- sen. Dagegen wird die specielle Verfolgung des menschlichen Stamm- baums, die nähere Bestimmung der uns bekannten Thierformen, wel- che entweder wirklich zu den Vorfahren des Menschen gehörten oder diesen wenigstens nächststehende Blutsverwandte waren, stets eine mehr oder minder annähernde Descendenz-Hypothese bleiben, welche um so mehr Gefahr läuft, sich von dem wirklichen Stammbaum zu ent- fernen, je näher sie demselben durch Aufsuchung der einzelnen Ahnen- formen zu kommen sucht. Dies ist mit Nothwendigkeit durch die un- geheure Lückenhaftigkeit unserer paläontologischen Kenntnisse bedingt, welche unter keinen Umständen jemals eine annähernde Vollständigkeit erreichen werden (S. 308--314). Aus der denkenden Erwägung dieses wichtigen Verhältnisses er- Deſcendenztheorie und Deſcendenzhypotheſe. Schluͤſſe dieſe Hypotheſe deductiv gruͤnden. Daher beſitzen alle ein-zelnen Verſuche zur Erkenntniß des Stammbaums irgend einer Orga- nismengruppe immer nur einen zeitweiligen und bedingten Werth, und unſere ſpecielle Hypotheſe daruͤber wird immer mehr vervoll- kommnet werden, je weiter wir in der vergleichenden Anatomie, Onto- genie und Palaͤontologie der betreffenden Gruppe fortſchreiten. Je mehr wir uns dabei aber in genealogiſche Einzelheiten verlieren, je weiter wir die einzelnen Aeſte und Zweige des Stammbaums verfol- gen, deſto unſicherer und ſubjectiver wird wegen der Unvollſtaͤndigkeit der empiriſchen Grundlagen unſere ſpecielle Abſtammungs-Hypo- theſe. Dies thut jedoch der Sicherheit der generellen Abſtammungs- Theorie, welche das unentbehrliche Fundament fuͤr jedes tiefere Verſtaͤndniß der biologiſchen Erſcheinungen iſt, keinen Abbruch. So erleidet es denn auch keinen Zweifel, daß wir die Abſtammung des Menſchen zunaͤchſt aus affenartigen, weiterhin aus niederen Saͤuge- thieren, und ſo immer weiter aus immer tieferen Stufen des Wirbel- thierſtammes, bis zu deſſen tiefſten wirbelloſen Wurzeln hinunter, als all- gemeine Theorie mit voller Sicherheit behaupten koͤnnen und muͤſ- ſen. Dagegen wird die ſpecielle Verfolgung des menſchlichen Stamm- baums, die naͤhere Beſtimmung der uns bekannten Thierformen, wel- che entweder wirklich zu den Vorfahren des Menſchen gehoͤrten oder dieſen wenigſtens naͤchſtſtehende Blutsverwandte waren, ſtets eine mehr oder minder annaͤhernde Deſcendenz-Hypotheſe bleiben, welche um ſo mehr Gefahr laͤuft, ſich von dem wirklichen Stammbaum zu ent- fernen, je naͤher ſie demſelben durch Aufſuchung der einzelnen Ahnen- formen zu kommen ſucht. Dies iſt mit Nothwendigkeit durch die un- geheure Luͤckenhaftigkeit unſerer palaͤontologiſchen Kenntniſſe bedingt, welche unter keinen Umſtaͤnden jemals eine annaͤhernde Vollſtaͤndigkeit erreichen werden (S. 308—314). Aus der denkenden Erwaͤgung dieſes wichtigen Verhaͤltniſſes er- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0568" n="543"/><fw place="top" type="header">Deſcendenztheorie und Deſcendenzhypotheſe.</fw><lb/> Schluͤſſe dieſe Hypotheſe deductiv gruͤnden. Daher beſitzen alle ein-<lb/> zelnen Verſuche zur Erkenntniß des Stammbaums irgend einer Orga-<lb/> nismengruppe immer nur einen zeitweiligen und bedingten Werth,<lb/> und unſere ſpecielle Hypotheſe daruͤber wird immer mehr vervoll-<lb/> kommnet werden, je weiter wir in der vergleichenden Anatomie, Onto-<lb/> genie und Palaͤontologie der betreffenden Gruppe fortſchreiten. Je<lb/> mehr wir uns dabei aber in genealogiſche Einzelheiten verlieren, je<lb/> weiter wir die einzelnen Aeſte und Zweige des Stammbaums verfol-<lb/> gen, deſto unſicherer und ſubjectiver wird wegen der Unvollſtaͤndigkeit<lb/> der empiriſchen Grundlagen unſere ſpecielle Abſtammungs-<hi rendition="#g">Hypo-<lb/> theſe.</hi> Dies thut jedoch der Sicherheit der generellen Abſtammungs-<lb/><hi rendition="#g">Theorie,</hi> welche das unentbehrliche Fundament fuͤr jedes tiefere<lb/> Verſtaͤndniß der biologiſchen Erſcheinungen iſt, keinen Abbruch. So<lb/> erleidet es denn auch keinen Zweifel, daß wir die Abſtammung des<lb/> Menſchen zunaͤchſt aus affenartigen, weiterhin aus niederen Saͤuge-<lb/> thieren, und ſo immer weiter aus immer tieferen Stufen des Wirbel-<lb/> thierſtammes, bis zu deſſen tiefſten wirbelloſen Wurzeln hinunter, als all-<lb/> gemeine <hi rendition="#g">Theorie</hi> mit voller Sicherheit behaupten koͤnnen und muͤſ-<lb/> ſen. Dagegen wird die ſpecielle Verfolgung des menſchlichen Stamm-<lb/> baums, die naͤhere Beſtimmung der uns bekannten Thierformen, wel-<lb/> che entweder wirklich zu den Vorfahren des Menſchen gehoͤrten oder<lb/> dieſen wenigſtens naͤchſtſtehende Blutsverwandte waren, ſtets eine mehr<lb/> oder minder annaͤhernde Deſcendenz-<hi rendition="#g">Hypotheſe</hi> bleiben, welche um<lb/> ſo mehr Gefahr laͤuft, ſich von dem wirklichen Stammbaum zu ent-<lb/> fernen, je naͤher ſie demſelben durch Aufſuchung der einzelnen Ahnen-<lb/> formen zu kommen ſucht. Dies iſt mit Nothwendigkeit durch die un-<lb/> geheure Luͤckenhaftigkeit unſerer palaͤontologiſchen Kenntniſſe bedingt,<lb/> welche unter keinen Umſtaͤnden jemals eine annaͤhernde Vollſtaͤndigkeit<lb/> erreichen werden (S. 308—314).</p><lb/> <p>Aus der denkenden Erwaͤgung dieſes wichtigen Verhaͤltniſſes er-<lb/> giebt ſich auch bereits die Antwort auf eine Frage, welche gewoͤhnlich<lb/> zunaͤchſt bei Beſprechung dieſes Gegenſtandes aufgeworfen wird, naͤm-<lb/> lich die Frage nach den wiſſenſchaftlichen <hi rendition="#g">Beweiſen fuͤr den thie-</hi><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [543/0568]
Deſcendenztheorie und Deſcendenzhypotheſe.
Schluͤſſe dieſe Hypotheſe deductiv gruͤnden. Daher beſitzen alle ein-
zelnen Verſuche zur Erkenntniß des Stammbaums irgend einer Orga-
nismengruppe immer nur einen zeitweiligen und bedingten Werth,
und unſere ſpecielle Hypotheſe daruͤber wird immer mehr vervoll-
kommnet werden, je weiter wir in der vergleichenden Anatomie, Onto-
genie und Palaͤontologie der betreffenden Gruppe fortſchreiten. Je
mehr wir uns dabei aber in genealogiſche Einzelheiten verlieren, je
weiter wir die einzelnen Aeſte und Zweige des Stammbaums verfol-
gen, deſto unſicherer und ſubjectiver wird wegen der Unvollſtaͤndigkeit
der empiriſchen Grundlagen unſere ſpecielle Abſtammungs-Hypo-
theſe. Dies thut jedoch der Sicherheit der generellen Abſtammungs-
Theorie, welche das unentbehrliche Fundament fuͤr jedes tiefere
Verſtaͤndniß der biologiſchen Erſcheinungen iſt, keinen Abbruch. So
erleidet es denn auch keinen Zweifel, daß wir die Abſtammung des
Menſchen zunaͤchſt aus affenartigen, weiterhin aus niederen Saͤuge-
thieren, und ſo immer weiter aus immer tieferen Stufen des Wirbel-
thierſtammes, bis zu deſſen tiefſten wirbelloſen Wurzeln hinunter, als all-
gemeine Theorie mit voller Sicherheit behaupten koͤnnen und muͤſ-
ſen. Dagegen wird die ſpecielle Verfolgung des menſchlichen Stamm-
baums, die naͤhere Beſtimmung der uns bekannten Thierformen, wel-
che entweder wirklich zu den Vorfahren des Menſchen gehoͤrten oder
dieſen wenigſtens naͤchſtſtehende Blutsverwandte waren, ſtets eine mehr
oder minder annaͤhernde Deſcendenz-Hypotheſe bleiben, welche um
ſo mehr Gefahr laͤuft, ſich von dem wirklichen Stammbaum zu ent-
fernen, je naͤher ſie demſelben durch Aufſuchung der einzelnen Ahnen-
formen zu kommen ſucht. Dies iſt mit Nothwendigkeit durch die un-
geheure Luͤckenhaftigkeit unſerer palaͤontologiſchen Kenntniſſe bedingt,
welche unter keinen Umſtaͤnden jemals eine annaͤhernde Vollſtaͤndigkeit
erreichen werden (S. 308—314).
Aus der denkenden Erwaͤgung dieſes wichtigen Verhaͤltniſſes er-
giebt ſich auch bereits die Antwort auf eine Frage, welche gewoͤhnlich
zunaͤchſt bei Beſprechung dieſes Gegenſtandes aufgeworfen wird, naͤm-
lich die Frage nach den wiſſenſchaftlichen Beweiſen fuͤr den thie-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |