tenden Entwickelung der verschiedenen Organismenarten aus jenen einfachsten Stammwesen. Diese beiden wichtigen mechanischen Vor- stellungen sind die unzertrennlichen Grundgedanken jeder streng wissen- schaftlich durchgeführten Entwickelungstheorie. Weil dieselbe eine Ab- stammung der verschiedenen Thier- und Pflanzenarten von einfachsten gemeinsamen Stammarten behauptet, konnten wir sie auch als Ab- stammungslehre (Descendenztheorie), und weil damit zugleich eine Umbildung der Arten verbunden ist, als Umbildungslehre (Trans- mutationstheorie) bezeichnen.
Während übernatürliche Schöpfungsgeschichten schon vor vielen Jahrtausenden, in jener unvordenklichen Urzeit entstanden sein müs- sen, als der Mensch, eben erst aus dem Affenzustande sich entwickelnd, zum ersten Male anfing, eingehender über sich selbst und über die Ent- stehung der ihn umgebenden Körperwelt nachzudenken, so sind dage- gen die natürlichen Entwickelungstheorien nothwendig viel jüngeren Ursprungs. Wir können diesen erst bei gereifteren Culturvölkern be- gegnen, denen durch philosophische Bildung die Nothwendigkeit einer natürlichen Ursachenerkenntniß klar geworden war; und auch bei die- sen dürfen wir zunächst nur von einzelnen bevorzugten Naturen erwar- ten, daß sie den Ursprung der Erscheinungswelt ebenso wie deren Ent- wickelungsgang, als die nothwendige Folge von mechanischen, natür- lich wirkenden Ursachen erkannten. Bei keinem Volke waren diese Vor- bedingungen für die Entstehung einer natürlichen Entwickelungs- theorie jemals so vorhanden, wie bei den Griechen des klassischen Al- terthums. Diesen fehlte aber auf der anderen Seite zu sehr die nä- here Bekanntschaft mit den Thatsachen der Naturvorgänge und ihren Formen, und somit die erfahrungsmäßige Grundlage für eine wei- tere Durchbildung der Entwickelungstheorie. Die exakte Naturfor- schung und die überall auf empirischer Basis begründete Naturerkennt- niß war ja dem Alterthum ebenso wie dem Mittelalter fast ganz unbe- kannt und ist erst eine Errungenschaft der neuern Zeit. Wir haben daher auch hier keine nähere Veranlassung, auf die natürlichen Ent- wickelungstheorien der verschiedenen griechischen Weltweisen einzuge-
Entſtehung der Entwickelungstheorien.
tenden Entwickelung der verſchiedenen Organismenarten aus jenen einfachſten Stammweſen. Dieſe beiden wichtigen mechaniſchen Vor- ſtellungen ſind die unzertrennlichen Grundgedanken jeder ſtreng wiſſen- ſchaftlich durchgefuͤhrten Entwickelungstheorie. Weil dieſelbe eine Ab- ſtammung der verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten von einfachſten gemeinſamen Stammarten behauptet, konnten wir ſie auch als Ab- ſtammungslehre (Deſcendenztheorie), und weil damit zugleich eine Umbildung der Arten verbunden iſt, als Umbildungslehre (Trans- mutationstheorie) bezeichnen.
Waͤhrend uͤbernatuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichten ſchon vor vielen Jahrtauſenden, in jener unvordenklichen Urzeit entſtanden ſein muͤſ- ſen, als der Menſch, eben erſt aus dem Affenzuſtande ſich entwickelnd, zum erſten Male anfing, eingehender uͤber ſich ſelbſt und uͤber die Ent- ſtehung der ihn umgebenden Koͤrperwelt nachzudenken, ſo ſind dage- gen die natuͤrlichen Entwickelungstheorien nothwendig viel juͤngeren Urſprungs. Wir koͤnnen dieſen erſt bei gereifteren Culturvoͤlkern be- gegnen, denen durch philoſophiſche Bildung die Nothwendigkeit einer natuͤrlichen Urſachenerkenntniß klar geworden war; und auch bei die- ſen duͤrfen wir zunaͤchſt nur von einzelnen bevorzugten Naturen erwar- ten, daß ſie den Urſprung der Erſcheinungswelt ebenſo wie deren Ent- wickelungsgang, als die nothwendige Folge von mechaniſchen, natuͤr- lich wirkenden Urſachen erkannten. Bei keinem Volke waren dieſe Vor- bedingungen fuͤr die Entſtehung einer natuͤrlichen Entwickelungs- theorie jemals ſo vorhanden, wie bei den Griechen des klaſſiſchen Al- terthums. Dieſen fehlte aber auf der anderen Seite zu ſehr die naͤ- here Bekanntſchaft mit den Thatſachen der Naturvorgaͤnge und ihren Formen, und ſomit die erfahrungsmaͤßige Grundlage fuͤr eine wei- tere Durchbildung der Entwickelungstheorie. Die exakte Naturfor- ſchung und die uͤberall auf empiriſcher Baſis begruͤndete Naturerkennt- niß war ja dem Alterthum ebenſo wie dem Mittelalter faſt ganz unbe- kannt und iſt erſt eine Errungenſchaft der neuern Zeit. Wir haben daher auch hier keine naͤhere Veranlaſſung, auf die natuͤrlichen Ent- wickelungstheorien der verſchiedenen griechiſchen Weltweiſen einzuge-
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Entſtehung der Entwickelungstheorien.
tenden Entwickelung der verſchiedenen Organismenarten aus jenen
einfachſten Stammweſen. Dieſe beiden wichtigen mechaniſchen Vor-
ſtellungen ſind die unzertrennlichen Grundgedanken jeder ſtreng wiſſen-
ſchaftlich durchgefuͤhrten Entwickelungstheorie. Weil dieſelbe eine Ab-
ſtammung der verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten von einfachſten
gemeinſamen Stammarten behauptet, konnten wir ſie auch als Ab-
ſtammungslehre (Deſcendenztheorie), und weil damit zugleich eine
Umbildung der Arten verbunden iſt, als Umbildungslehre (Trans-
mutationstheorie) bezeichnen.
Waͤhrend uͤbernatuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichten ſchon vor vielen
Jahrtauſenden, in jener unvordenklichen Urzeit entſtanden ſein muͤſ-
ſen, als der Menſch, eben erſt aus dem Affenzuſtande ſich entwickelnd,
zum erſten Male anfing, eingehender uͤber ſich ſelbſt und uͤber die Ent-
ſtehung der ihn umgebenden Koͤrperwelt nachzudenken, ſo ſind dage-
gen die natuͤrlichen Entwickelungstheorien nothwendig viel juͤngeren
Urſprungs. Wir koͤnnen dieſen erſt bei gereifteren Culturvoͤlkern be-
gegnen, denen durch philoſophiſche Bildung die Nothwendigkeit einer
natuͤrlichen Urſachenerkenntniß klar geworden war; und auch bei die-
ſen duͤrfen wir zunaͤchſt nur von einzelnen bevorzugten Naturen erwar-
ten, daß ſie den Urſprung der Erſcheinungswelt ebenſo wie deren Ent-
wickelungsgang, als die nothwendige Folge von mechaniſchen, natuͤr-
lich wirkenden Urſachen erkannten. Bei keinem Volke waren dieſe Vor-
bedingungen fuͤr die Entſtehung einer natuͤrlichen Entwickelungs-
theorie jemals ſo vorhanden, wie bei den Griechen des klaſſiſchen Al-
terthums. Dieſen fehlte aber auf der anderen Seite zu ſehr die naͤ-
here Bekanntſchaft mit den Thatſachen der Naturvorgaͤnge und ihren
Formen, und ſomit die erfahrungsmaͤßige Grundlage fuͤr eine wei-
tere Durchbildung der Entwickelungstheorie. Die exakte Naturfor-
ſchung und die uͤberall auf empiriſcher Baſis begruͤndete Naturerkennt-
niß war ja dem Alterthum ebenſo wie dem Mittelalter faſt ganz unbe-
kannt und iſt erſt eine Errungenſchaft der neuern Zeit. Wir haben
daher auch hier keine naͤhere Veranlaſſung, auf die natuͤrlichen Ent-
wickelungstheorien der verſchiedenen griechiſchen Weltweiſen einzuge-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/83>, abgerufen am 24.11.2024.
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