Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Goethe's Verdienste als Naturforscher.
nicht nachkommen konnten. Das Mißgeschick, daß seine naturphilo-
sophischen Verdienste von seinen Zeitgenossen verkannt wurden, hat
Goethe beständig tief berührt. An verschiedenen Stellen seiner na-
turwissenschaftlichen Schriften beklagt er sich bitter über die beschränk-
ten Fachleute, welche seine Arbeiten nicht zu würdigen verstehen, welche
den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, und welche sich nicht dazu
erheben können, aus dem Wust des Einzelnen allgemeine Naturgesetze
herauszufinden. Nur zu gerecht ist sein Vorwurf: "Der Philosoph
wird gar bald entdecken, daß sich die Beobachter selten zu einem Stand-
punkte erheben, von welchem sie so viele bedeutend bezügliche Gegen-
stände übersehen können." Wesentlich allerdings wurde diese Verken-
nung verschuldet durch den falschen Weg, auf welchen Goethe in
seiner Farbenlehre gerieth. Die Farbenlehre, die er selbst als das
Lieblingskind seiner Muße bezeichnet, ist in ihren Grundlagen durch-
aus verfehlt, soviel Schönes sie auch im Einzelnen enthalten mag.
Die exakte mathematische Methode, mittelst welcher man allein zu-
nächst in den anorganischen Naturwissenschaften, in der Physik vor
Allem, Schritt für Schritt auf unumstößlich fester Basis weiter bauen
kann, war Goethe durchaus zuwider. Er ließ sich in der Verwer-
fung derselben nicht allein zu großen Ungerechtigkeiten gegen die her-
vorragendsten Physiker hinreißen, sondern auch auf Jrrwege verleiten,
die seinen übrigen werthvollen Arbeiten sehr geschadet haben. Ganz
etwas Anderes ist es in den organischen Naturwissenschaften, in
welchen wir nur selten im Stande sind, von Anfang an gleich auf
der unumstößlich festen, mathematischen Basis vorzugehen, vielmehr
gezwungen sind, wegen der unendlich schwierigen und verwickelten
Natur der Aufgabe, uns zunächst Jnduktionsschlüsse zu bilden; d. h.
wir müssen aus zahlreichen einzelnen Beobachtungen, die doch nicht
ganz vollständig sind, ein allgemeines Gesetz zu begründen suchen.
Die Vergleichung der verwandten Erscheinungsreihen, die Combina-
tion ist hier das wichtigste Forschungsinstrument, und diese wurde
von Goethe mit ebensoviel Glück als bewußter Wertherkenntniß bei
seinen naturphilosophischen Arbeiten angewandt.

5 *

Goethe’s Verdienſte als Naturforſcher.
nicht nachkommen konnten. Das Mißgeſchick, daß ſeine naturphilo-
ſophiſchen Verdienſte von ſeinen Zeitgenoſſen verkannt wurden, hat
Goethe beſtaͤndig tief beruͤhrt. An verſchiedenen Stellen ſeiner na-
turwiſſenſchaftlichen Schriften beklagt er ſich bitter uͤber die beſchraͤnk-
ten Fachleute, welche ſeine Arbeiten nicht zu wuͤrdigen verſtehen, welche
den Wald vor lauter Baͤumen nicht ſehen, und welche ſich nicht dazu
erheben koͤnnen, aus dem Wuſt des Einzelnen allgemeine Naturgeſetze
herauszufinden. Nur zu gerecht iſt ſein Vorwurf: „Der Philoſoph
wird gar bald entdecken, daß ſich die Beobachter ſelten zu einem Stand-
punkte erheben, von welchem ſie ſo viele bedeutend bezuͤgliche Gegen-
ſtaͤnde uͤberſehen koͤnnen.“ Weſentlich allerdings wurde dieſe Verken-
nung verſchuldet durch den falſchen Weg, auf welchen Goethe in
ſeiner Farbenlehre gerieth. Die Farbenlehre, die er ſelbſt als das
Lieblingskind ſeiner Muße bezeichnet, iſt in ihren Grundlagen durch-
aus verfehlt, ſoviel Schoͤnes ſie auch im Einzelnen enthalten mag.
Die exakte mathematiſche Methode, mittelſt welcher man allein zu-
naͤchſt in den anorganiſchen Naturwiſſenſchaften, in der Phyſik vor
Allem, Schritt fuͤr Schritt auf unumſtoͤßlich feſter Baſis weiter bauen
kann, war Goethe durchaus zuwider. Er ließ ſich in der Verwer-
fung derſelben nicht allein zu großen Ungerechtigkeiten gegen die her-
vorragendſten Phyſiker hinreißen, ſondern auch auf Jrrwege verleiten,
die ſeinen uͤbrigen werthvollen Arbeiten ſehr geſchadet haben. Ganz
etwas Anderes iſt es in den organiſchen Naturwiſſenſchaften, in
welchen wir nur ſelten im Stande ſind, von Anfang an gleich auf
der unumſtoͤßlich feſten, mathematiſchen Baſis vorzugehen, vielmehr
gezwungen ſind, wegen der unendlich ſchwierigen und verwickelten
Natur der Aufgabe, uns zunaͤchſt Jnduktionsſchluͤſſe zu bilden; d. h.
wir muͤſſen aus zahlreichen einzelnen Beobachtungen, die doch nicht
ganz vollſtaͤndig ſind, ein allgemeines Geſetz zu begruͤnden ſuchen.
Die Vergleichung der verwandten Erſcheinungsreihen, die Combina-
tion iſt hier das wichtigſte Forſchungsinſtrument, und dieſe wurde
von Goethe mit ebenſoviel Gluͤck als bewußter Wertherkenntniß bei
ſeinen naturphiloſophiſchen Arbeiten angewandt.

5 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0088" n="67"/><fw place="top" type="header">Goethe&#x2019;s Verdien&#x017F;te als Naturfor&#x017F;cher.</fw><lb/>
nicht nachkommen konnten. Das Mißge&#x017F;chick, daß &#x017F;eine naturphilo-<lb/>
&#x017F;ophi&#x017F;chen Verdien&#x017F;te von &#x017F;einen Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en verkannt wurden, hat<lb/><hi rendition="#g">Goethe</hi> be&#x017F;ta&#x0364;ndig tief beru&#x0364;hrt. An ver&#x017F;chiedenen Stellen &#x017F;einer na-<lb/>
turwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Schriften beklagt er &#x017F;ich bitter u&#x0364;ber die be&#x017F;chra&#x0364;nk-<lb/>
ten Fachleute, welche &#x017F;eine Arbeiten nicht zu wu&#x0364;rdigen ver&#x017F;tehen, welche<lb/>
den Wald vor lauter Ba&#x0364;umen nicht &#x017F;ehen, und welche &#x017F;ich nicht dazu<lb/>
erheben ko&#x0364;nnen, aus dem Wu&#x017F;t des Einzelnen allgemeine Naturge&#x017F;etze<lb/>
herauszufinden. Nur zu gerecht i&#x017F;t &#x017F;ein Vorwurf: &#x201E;Der Philo&#x017F;oph<lb/>
wird gar bald entdecken, daß &#x017F;ich die Beobachter &#x017F;elten zu einem Stand-<lb/>
punkte erheben, von welchem &#x017F;ie &#x017F;o viele bedeutend bezu&#x0364;gliche Gegen-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nde u&#x0364;ber&#x017F;ehen ko&#x0364;nnen.&#x201C; We&#x017F;entlich allerdings wurde die&#x017F;e Verken-<lb/>
nung ver&#x017F;chuldet durch den fal&#x017F;chen Weg, auf welchen <hi rendition="#g">Goethe</hi> in<lb/>
&#x017F;einer Farbenlehre gerieth. Die Farbenlehre, die er &#x017F;elb&#x017F;t als das<lb/>
Lieblingskind &#x017F;einer Muße bezeichnet, i&#x017F;t in ihren Grundlagen durch-<lb/>
aus verfehlt, &#x017F;oviel Scho&#x0364;nes &#x017F;ie auch im Einzelnen enthalten mag.<lb/>
Die exakte mathemati&#x017F;che Methode, mittel&#x017F;t welcher man allein zu-<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;t in den anorgani&#x017F;chen Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, in der Phy&#x017F;ik vor<lb/>
Allem, Schritt fu&#x0364;r Schritt auf unum&#x017F;to&#x0364;ßlich fe&#x017F;ter Ba&#x017F;is weiter bauen<lb/>
kann, war <hi rendition="#g">Goethe</hi> durchaus zuwider. Er ließ &#x017F;ich in der Verwer-<lb/>
fung der&#x017F;elben nicht allein zu großen Ungerechtigkeiten gegen die her-<lb/>
vorragend&#x017F;ten Phy&#x017F;iker hinreißen, &#x017F;ondern auch auf Jrrwege verleiten,<lb/>
die &#x017F;einen u&#x0364;brigen werthvollen Arbeiten &#x017F;ehr ge&#x017F;chadet haben. Ganz<lb/>
etwas Anderes i&#x017F;t es in den organi&#x017F;chen Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, in<lb/>
welchen wir nur &#x017F;elten im Stande &#x017F;ind, von Anfang an gleich auf<lb/>
der unum&#x017F;to&#x0364;ßlich fe&#x017F;ten, mathemati&#x017F;chen Ba&#x017F;is vorzugehen, vielmehr<lb/>
gezwungen &#x017F;ind, wegen der unendlich &#x017F;chwierigen und verwickelten<lb/>
Natur der Aufgabe, uns zuna&#x0364;ch&#x017F;t Jnduktions&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e zu bilden; d. h.<lb/>
wir mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en aus zahlreichen einzelnen Beobachtungen, die doch nicht<lb/>
ganz voll&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;ind, ein allgemeines Ge&#x017F;etz zu begru&#x0364;nden &#x017F;uchen.<lb/>
Die Vergleichung der verwandten Er&#x017F;cheinungsreihen, die Combina-<lb/>
tion i&#x017F;t hier das wichtig&#x017F;te For&#x017F;chungsin&#x017F;trument, und die&#x017F;e wurde<lb/>
von <hi rendition="#g">Goethe</hi> mit eben&#x017F;oviel Glu&#x0364;ck als bewußter Wertherkenntniß bei<lb/>
&#x017F;einen naturphilo&#x017F;ophi&#x017F;chen Arbeiten angewandt.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">5 *</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0088] Goethe’s Verdienſte als Naturforſcher. nicht nachkommen konnten. Das Mißgeſchick, daß ſeine naturphilo- ſophiſchen Verdienſte von ſeinen Zeitgenoſſen verkannt wurden, hat Goethe beſtaͤndig tief beruͤhrt. An verſchiedenen Stellen ſeiner na- turwiſſenſchaftlichen Schriften beklagt er ſich bitter uͤber die beſchraͤnk- ten Fachleute, welche ſeine Arbeiten nicht zu wuͤrdigen verſtehen, welche den Wald vor lauter Baͤumen nicht ſehen, und welche ſich nicht dazu erheben koͤnnen, aus dem Wuſt des Einzelnen allgemeine Naturgeſetze herauszufinden. Nur zu gerecht iſt ſein Vorwurf: „Der Philoſoph wird gar bald entdecken, daß ſich die Beobachter ſelten zu einem Stand- punkte erheben, von welchem ſie ſo viele bedeutend bezuͤgliche Gegen- ſtaͤnde uͤberſehen koͤnnen.“ Weſentlich allerdings wurde dieſe Verken- nung verſchuldet durch den falſchen Weg, auf welchen Goethe in ſeiner Farbenlehre gerieth. Die Farbenlehre, die er ſelbſt als das Lieblingskind ſeiner Muße bezeichnet, iſt in ihren Grundlagen durch- aus verfehlt, ſoviel Schoͤnes ſie auch im Einzelnen enthalten mag. Die exakte mathematiſche Methode, mittelſt welcher man allein zu- naͤchſt in den anorganiſchen Naturwiſſenſchaften, in der Phyſik vor Allem, Schritt fuͤr Schritt auf unumſtoͤßlich feſter Baſis weiter bauen kann, war Goethe durchaus zuwider. Er ließ ſich in der Verwer- fung derſelben nicht allein zu großen Ungerechtigkeiten gegen die her- vorragendſten Phyſiker hinreißen, ſondern auch auf Jrrwege verleiten, die ſeinen uͤbrigen werthvollen Arbeiten ſehr geſchadet haben. Ganz etwas Anderes iſt es in den organiſchen Naturwiſſenſchaften, in welchen wir nur ſelten im Stande ſind, von Anfang an gleich auf der unumſtoͤßlich feſten, mathematiſchen Baſis vorzugehen, vielmehr gezwungen ſind, wegen der unendlich ſchwierigen und verwickelten Natur der Aufgabe, uns zunaͤchſt Jnduktionsſchluͤſſe zu bilden; d. h. wir muͤſſen aus zahlreichen einzelnen Beobachtungen, die doch nicht ganz vollſtaͤndig ſind, ein allgemeines Geſetz zu begruͤnden ſuchen. Die Vergleichung der verwandten Erſcheinungsreihen, die Combina- tion iſt hier das wichtigſte Forſchungsinſtrument, und dieſe wurde von Goethe mit ebenſoviel Gluͤck als bewußter Wertherkenntniß bei ſeinen naturphiloſophiſchen Arbeiten angewandt. 5 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/88
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/88>, abgerufen am 21.11.2024.