Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethe's Entdeckung der beiden organischen Bildungstriebe.
"Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten
"Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung,
"Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen."

Schon hier ist der Gegensatz zwischen zwei verschiede-
nen organischen Bildungstrieben
angedeutet, welche sich ge-
genüber stehen, und durch ihre Wechselwirkung die Form des
Organismus bestimmen; einerseits ein gemeinsames inneres, fest sich
erhaltendes Urbild, welches den verschiedensten Gestalten zu Grunde
liegt; andrerseits der äußerlich wirkende Einfluß der Umgebung und
der Lebensweise, welcher umbildend auf das Urbild einwirkt. Noch
bestimmter tritt dieser Gegensatz in folgendem Ausspruch hervor:

"Eine innere ursprüngliche Gemeinschaft liegt aller Organisation
zu Grunde; die Verschiedenheit der Gestalten dagegen entspringt aus
den nothwendigen Beziehungsverhältnissen zur Außenwelt, und man
darf daher eine ursprüngliche, gleichzeitige Verschiedenheit und eine un-
aufhaltsam fortschreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die
eben so konstanten als abweichenden Erscheinungen begreifen zu kön-
nen."

Das "Urbild" oder der "Typus", welcher als "innere ursprüng-
liche Gemeinschaft" allen organischen Formen zu Grunde liegt, ist der
innere Bildungstrieb, welcher die ursprüngliche Bildungsrichtung
erhält und durch Vererbung fortpflanzt. Die "unaufhaltsam
fortschreitende Umbildung" dagegen, welche "aus den nothwendigen
Beziehungsverhältnissen zur Außenwelt entspringt", bewirkt als äuße-
rer Bildungstrieb,
durch Anpassung an die umgebenden Le-
bensbedingungen, die unendliche "Verschiedenheit der Gestalten".
(Gen. Morph. I., 154; II., 224). Den inneren Bildungstrieb der
Vererbung, welcher die Einheit des Urbildes erhält, nennt Goethe
an einer anderen Stelle die Centripetalkraft des Organis-
mus,
seinen Specifikationstrieb; im Gegensatz dazu nennt er den äuße-
ren Bildungstrieb der Anpassung, welcher die Mannichfaltigkeit
der organischen Gestalten hervorbringt, die Centrifugalkraft des
Organismus, seinen Variationstrieb. Die betreffende Stelle, in wel-

Goethe’s Entdeckung der beiden organiſchen Bildungstriebe.
„Und die Weiſe zu leben, ſie wirkt auf alle Geſtalten
„Maͤchtig zuruͤck. So zeiget ſich feſt die geordnete Bildung,
„Welche zum Wechſel ſich neigt durch aͤußerlich wirkende Weſen.“

Schon hier iſt der Gegenſatz zwiſchen zwei verſchiede-
nen organiſchen Bildungstrieben
angedeutet, welche ſich ge-
genuͤber ſtehen, und durch ihre Wechſelwirkung die Form des
Organismus beſtimmen; einerſeits ein gemeinſames inneres, feſt ſich
erhaltendes Urbild, welches den verſchiedenſten Geſtalten zu Grunde
liegt; andrerſeits der aͤußerlich wirkende Einfluß der Umgebung und
der Lebensweiſe, welcher umbildend auf das Urbild einwirkt. Noch
beſtimmter tritt dieſer Gegenſatz in folgendem Ausſpruch hervor:

„Eine innere urſpruͤngliche Gemeinſchaft liegt aller Organiſation
zu Grunde; die Verſchiedenheit der Geſtalten dagegen entſpringt aus
den nothwendigen Beziehungsverhaͤltniſſen zur Außenwelt, und man
darf daher eine urſpruͤngliche, gleichzeitige Verſchiedenheit und eine un-
aufhaltſam fortſchreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die
eben ſo konſtanten als abweichenden Erſcheinungen begreifen zu koͤn-
nen.“

Das „Urbild“ oder der „Typus“, welcher als „innere urſpruͤng-
liche Gemeinſchaft“ allen organiſchen Formen zu Grunde liegt, iſt der
innere Bildungstrieb, welcher die urſpruͤngliche Bildungsrichtung
erhaͤlt und durch Vererbung fortpflanzt. Die „unaufhaltſam
fortſchreitende Umbildung“ dagegen, welche „aus den nothwendigen
Beziehungsverhaͤltniſſen zur Außenwelt entſpringt“, bewirkt als aͤuße-
rer Bildungstrieb,
durch Anpaſſung an die umgebenden Le-
bensbedingungen, die unendliche „Verſchiedenheit der Geſtalten“.
(Gen. Morph. I., 154; II., 224). Den inneren Bildungstrieb der
Vererbung, welcher die Einheit des Urbildes erhaͤlt, nennt Goethe
an einer anderen Stelle die Centripetalkraft des Organis-
mus,
ſeinen Specifikationstrieb; im Gegenſatz dazu nennt er den aͤuße-
ren Bildungstrieb der Anpaſſung, welcher die Mannichfaltigkeit
der organiſchen Geſtalten hervorbringt, die Centrifugalkraft des
Organismus, ſeinen Variationstrieb. Die betreffende Stelle, in wel-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <cit>
          <quote><pb facs="#f0095" n="74"/><fw place="top" type="header">Goethe&#x2019;s Entdeckung der beiden organi&#x017F;chen Bildungstriebe.</fw><lb/>
&#x201E;Und die Wei&#x017F;e zu leben, &#x017F;ie wirkt auf alle Ge&#x017F;talten<lb/>
&#x201E;Ma&#x0364;chtig zuru&#x0364;ck. So zeiget &#x017F;ich fe&#x017F;t die geordnete Bildung,<lb/>
&#x201E;Welche zum Wech&#x017F;el &#x017F;ich neigt durch a&#x0364;ußerlich wirkende We&#x017F;en.&#x201C;</quote>
        </cit><lb/>
        <p>Schon hier i&#x017F;t der <hi rendition="#g">Gegen&#x017F;atz zwi&#x017F;chen zwei ver&#x017F;chiede-<lb/>
nen organi&#x017F;chen Bildungstrieben</hi> angedeutet, welche &#x017F;ich ge-<lb/>
genu&#x0364;ber &#x017F;tehen, und durch ihre <hi rendition="#g">Wech&#x017F;elwirkung</hi> die Form des<lb/>
Organismus be&#x017F;timmen; einer&#x017F;eits ein gemein&#x017F;ames inneres, fe&#x017F;t &#x017F;ich<lb/>
erhaltendes Urbild, welches den ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Ge&#x017F;talten zu Grunde<lb/>
liegt; andrer&#x017F;eits der a&#x0364;ußerlich wirkende Einfluß der Umgebung und<lb/>
der Lebenswei&#x017F;e, welcher umbildend auf das Urbild einwirkt. Noch<lb/>
be&#x017F;timmter tritt die&#x017F;er Gegen&#x017F;atz in folgendem Aus&#x017F;pruch hervor:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Eine innere ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche Gemein&#x017F;chaft liegt aller Organi&#x017F;ation<lb/>
zu Grunde; die Ver&#x017F;chiedenheit der Ge&#x017F;talten dagegen ent&#x017F;pringt aus<lb/>
den nothwendigen Beziehungsverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en zur Außenwelt, und man<lb/>
darf daher eine ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche, gleichzeitige Ver&#x017F;chiedenheit und eine un-<lb/>
aufhalt&#x017F;am fort&#x017F;chreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die<lb/>
eben &#x017F;o kon&#x017F;tanten als abweichenden Er&#x017F;cheinungen begreifen zu ko&#x0364;n-<lb/>
nen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Das &#x201E;Urbild&#x201C; oder der &#x201E;Typus&#x201C;, welcher als &#x201E;innere ur&#x017F;pru&#x0364;ng-<lb/>
liche Gemein&#x017F;chaft&#x201C; allen organi&#x017F;chen Formen zu Grunde liegt, i&#x017F;t der<lb/><hi rendition="#g">innere Bildungstrieb,</hi> welcher die ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche Bildungsrichtung<lb/>
erha&#x0364;lt und durch <hi rendition="#g">Vererbung</hi> fortpflanzt. Die &#x201E;unaufhalt&#x017F;am<lb/>
fort&#x017F;chreitende Umbildung&#x201C; dagegen, welche &#x201E;aus den nothwendigen<lb/>
Beziehungsverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en zur Außenwelt ent&#x017F;pringt&#x201C;, bewirkt als <hi rendition="#g">a&#x0364;uße-<lb/>
rer Bildungstrieb,</hi> durch <hi rendition="#g">Anpa&#x017F;&#x017F;ung</hi> an die umgebenden Le-<lb/>
bensbedingungen, die unendliche &#x201E;Ver&#x017F;chiedenheit der Ge&#x017F;talten&#x201C;.<lb/>
(Gen. Morph. <hi rendition="#aq">I., 154; II.,</hi> 224). Den inneren Bildungstrieb der<lb/><hi rendition="#g">Vererbung,</hi> welcher die Einheit des Urbildes erha&#x0364;lt, nennt <hi rendition="#g">Goethe</hi><lb/>
an einer anderen Stelle die <hi rendition="#g">Centripetalkraft des Organis-<lb/>
mus,</hi> &#x017F;einen Specifikationstrieb; im Gegen&#x017F;atz dazu nennt er den a&#x0364;uße-<lb/>
ren Bildungstrieb der <hi rendition="#g">Anpa&#x017F;&#x017F;ung,</hi> welcher die Mannichfaltigkeit<lb/>
der organi&#x017F;chen Ge&#x017F;talten hervorbringt, die <hi rendition="#g">Centrifugalkraft</hi> des<lb/>
Organismus, &#x017F;einen Variationstrieb. Die betreffende Stelle, in wel-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0095] Goethe’s Entdeckung der beiden organiſchen Bildungstriebe. „Und die Weiſe zu leben, ſie wirkt auf alle Geſtalten „Maͤchtig zuruͤck. So zeiget ſich feſt die geordnete Bildung, „Welche zum Wechſel ſich neigt durch aͤußerlich wirkende Weſen.“ Schon hier iſt der Gegenſatz zwiſchen zwei verſchiede- nen organiſchen Bildungstrieben angedeutet, welche ſich ge- genuͤber ſtehen, und durch ihre Wechſelwirkung die Form des Organismus beſtimmen; einerſeits ein gemeinſames inneres, feſt ſich erhaltendes Urbild, welches den verſchiedenſten Geſtalten zu Grunde liegt; andrerſeits der aͤußerlich wirkende Einfluß der Umgebung und der Lebensweiſe, welcher umbildend auf das Urbild einwirkt. Noch beſtimmter tritt dieſer Gegenſatz in folgendem Ausſpruch hervor: „Eine innere urſpruͤngliche Gemeinſchaft liegt aller Organiſation zu Grunde; die Verſchiedenheit der Geſtalten dagegen entſpringt aus den nothwendigen Beziehungsverhaͤltniſſen zur Außenwelt, und man darf daher eine urſpruͤngliche, gleichzeitige Verſchiedenheit und eine un- aufhaltſam fortſchreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die eben ſo konſtanten als abweichenden Erſcheinungen begreifen zu koͤn- nen.“ Das „Urbild“ oder der „Typus“, welcher als „innere urſpruͤng- liche Gemeinſchaft“ allen organiſchen Formen zu Grunde liegt, iſt der innere Bildungstrieb, welcher die urſpruͤngliche Bildungsrichtung erhaͤlt und durch Vererbung fortpflanzt. Die „unaufhaltſam fortſchreitende Umbildung“ dagegen, welche „aus den nothwendigen Beziehungsverhaͤltniſſen zur Außenwelt entſpringt“, bewirkt als aͤuße- rer Bildungstrieb, durch Anpaſſung an die umgebenden Le- bensbedingungen, die unendliche „Verſchiedenheit der Geſtalten“. (Gen. Morph. I., 154; II., 224). Den inneren Bildungstrieb der Vererbung, welcher die Einheit des Urbildes erhaͤlt, nennt Goethe an einer anderen Stelle die Centripetalkraft des Organis- mus, ſeinen Specifikationstrieb; im Gegenſatz dazu nennt er den aͤuße- ren Bildungstrieb der Anpaſſung, welcher die Mannichfaltigkeit der organiſchen Geſtalten hervorbringt, die Centrifugalkraft des Organismus, ſeinen Variationstrieb. Die betreffende Stelle, in wel-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/95
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/95>, abgerufen am 21.11.2024.