wie in der Psychologie. Diese Konfusion ist in den letzten drei Decennien um so fühlbarer hervorgetreten, je mehr die groß- artigen Fortschritte der Anatomie und Physiologie unsere Kennt- niß vom Bau und von den Funktionen des wichtigsten Seelen- Organs erweitert haben.
Methoden der Seelenforschung. Nach meiner Ueber- zeugung ist das, was man die "Seele" nennt, in Wahrheit eine Natur-Erscheinung; ich betrachte daher die Psycho- logie als einen Zweig der Naturwissenschaft -- und zwar der Physiologie. Demzufolge muß ich von vornherein betonen, daß wir für dieselbe keine anderen Forschungswege zulassen können als in allen übrigen Naturwissenschaften; d. h. in erster Linie die Beobachtung und das Experiment, in zweiter Linie die Entwickelungsgeschichte und in dritter Linie die meta- physische Spekulation, welche durch induktive und deduktive Schlüsse möglichst dem unbekannten "Wesen" der Erscheinung sich zu nähern sucht. Mit Bezug auf die principielle Beurthei- lung desselben aber müssen wir zunächst gerade hier den Gegen- satz der dualistischen und der monistischen Auffassung scharf in's Auge fassen.
Dualistische Psychologie. Die allgemein herrschende Auf- fassung des Seelenlebens, welche wir bekämpfen, betrachtet Seele und Leib als zwei verschiedene "Wesen". Diese beiden Wesen können unabhängig von einander existiren und sind nicht noth- wendig an einander gebunden. Der organische Leib ist ein sterbliches, materielles Wesen, chemisch zusammengesetzt aus lebendigem Plasma und den von diesem erzeugten Verbindungen (Plasma-Produkten). Die Seele hingegen ist ein unsterbliches, immaterielles Wesen, ein spirituelles Agens, dessen räthsel- hafte Thätigkeit uns völlig unbekannt ist. Diese triviale Auf- fassung ist als solche spiritualistisch und ihr principielles Gegentheil in gewissem Sinne materialistisch. Sie ist zugleich transscendent
Methoden der Pſychologie. VI.
wie in der Pſychologie. Dieſe Konfuſion iſt in den letzten drei Decennien um ſo fühlbarer hervorgetreten, je mehr die groß- artigen Fortſchritte der Anatomie und Phyſiologie unſere Kennt- niß vom Bau und von den Funktionen des wichtigſten Seelen- Organs erweitert haben.
Methoden der Seelenforſchung. Nach meiner Ueber- zeugung iſt das, was man die „Seele“ nennt, in Wahrheit eine Natur-Erſcheinung; ich betrachte daher die Pſycho- logie als einen Zweig der Naturwiſſenſchaft — und zwar der Phyſiologie. Demzufolge muß ich von vornherein betonen, daß wir für dieſelbe keine anderen Forſchungswege zulaſſen können als in allen übrigen Naturwiſſenſchaften; d. h. in erſter Linie die Beobachtung und das Experiment, in zweiter Linie die Entwickelungsgeſchichte und in dritter Linie die meta- phyſiſche Spekulation, welche durch induktive und deduktive Schlüſſe möglichſt dem unbekannten „Weſen“ der Erſcheinung ſich zu nähern ſucht. Mit Bezug auf die principielle Beurthei- lung deſſelben aber müſſen wir zunächſt gerade hier den Gegen- ſatz der dualiſtiſchen und der moniſtiſchen Auffaſſung ſcharf in's Auge faſſen.
Dualiſtiſche Pſychologie. Die allgemein herrſchende Auf- faſſung des Seelenlebens, welche wir bekämpfen, betrachtet Seele und Leib als zwei verſchiedene „Weſen“. Dieſe beiden Weſen können unabhängig von einander exiſtiren und ſind nicht noth- wendig an einander gebunden. Der organiſche Leib iſt ein ſterbliches, materielles Weſen, chemiſch zuſammengeſetzt aus lebendigem Plasma und den von dieſem erzeugten Verbindungen (Plasma-Produkten). Die Seele hingegen iſt ein unſterbliches, immaterielles Weſen, ein ſpirituelles Agens, deſſen räthſel- hafte Thätigkeit uns völlig unbekannt iſt. Dieſe triviale Auf- faſſung iſt als ſolche ſpiritualiſtiſch und ihr principielles Gegentheil in gewiſſem Sinne materialiſtiſch. Sie iſt zugleich transſcendent
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Methoden der Pſychologie. VI.
wie in der Pſychologie. Dieſe Konfuſion iſt in den letzten drei
Decennien um ſo fühlbarer hervorgetreten, je mehr die groß-
artigen Fortſchritte der Anatomie und Phyſiologie unſere Kennt-
niß vom Bau und von den Funktionen des wichtigſten Seelen-
Organs erweitert haben.
Methoden der Seelenforſchung. Nach meiner Ueber-
zeugung iſt das, was man die „Seele“ nennt, in Wahrheit
eine Natur-Erſcheinung; ich betrachte daher die Pſycho-
logie als einen Zweig der Naturwiſſenſchaft — und zwar der
Phyſiologie. Demzufolge muß ich von vornherein betonen,
daß wir für dieſelbe keine anderen Forſchungswege zulaſſen können
als in allen übrigen Naturwiſſenſchaften; d. h. in erſter Linie
die Beobachtung und das Experiment, in zweiter Linie
die Entwickelungsgeſchichte und in dritter Linie die meta-
phyſiſche Spekulation, welche durch induktive und deduktive
Schlüſſe möglichſt dem unbekannten „Weſen“ der Erſcheinung
ſich zu nähern ſucht. Mit Bezug auf die principielle Beurthei-
lung deſſelben aber müſſen wir zunächſt gerade hier den Gegen-
ſatz der dualiſtiſchen und der moniſtiſchen Auffaſſung ſcharf in's
Auge faſſen.
Dualiſtiſche Pſychologie. Die allgemein herrſchende Auf-
faſſung des Seelenlebens, welche wir bekämpfen, betrachtet Seele
und Leib als zwei verſchiedene „Weſen“. Dieſe beiden Weſen
können unabhängig von einander exiſtiren und ſind nicht noth-
wendig an einander gebunden. Der organiſche Leib iſt ein
ſterbliches, materielles Weſen, chemiſch zuſammengeſetzt aus
lebendigem Plasma und den von dieſem erzeugten Verbindungen
(Plasma-Produkten). Die Seele hingegen iſt ein unſterbliches,
immaterielles Weſen, ein ſpirituelles Agens, deſſen räthſel-
hafte Thätigkeit uns völlig unbekannt iſt. Dieſe triviale Auf-
faſſung iſt als ſolche ſpiritualiſtiſch und ihr principielles Gegentheil
in gewiſſem Sinne materialiſtiſch. Sie iſt zugleich transſcendent
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/120>, abgerufen am 16.02.2025.
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