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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VI. Methoden der Psychophysik.

Psychophysik. Ein kleiner Theil der Psychologie, welcher
der erstrebten "exakten" Untersuchung zugänglich erscheint, ist seit
zwanzig Jahren mit großer Sorgfalt studirt und zum Range
einer besonderen Disciplin erhoben worden unter der Bezeichnung
Psychophysik. Die Begründer derselben, die Physiologen
Theodor Fechner und Ernst Heinrich Weber in Leipzig,
untersuchten zunächst genau die Abhängigkeit der Empfindungen
von den äußeren, auf die Sinnesorgane wirkenden Reizen und
besonders das quantitative Verhältniß zwischen Reizstärke und
Empfindungs-Intensität. Sie fanden, daß zur Erregung einer
Empfindung eine bestimmte minimale Reizstärke erforderlich ist
(die "Reizschwelle"), und daß ein gegebener Reiz immer um
einen gewissen Betrag (die "Unterschiedsschwelle") geändert werden
muß, ehe die Empfindung sich merklich verändert. Für die wich-
tigsten Sinnes-Empfindungen (Gesicht, Gehör, Druckempfindung)
gilt das Gesetz, daß ihre Aenderung derjenigen der Reizstärke
proportional ist. Aus diesem empirischen "Weber'schen Gesetz"
leitete Fechner durch mathematische Operationen sein "psycho-
physisches Grundgesetz" ab, wonach die Empfindungs-Intensitäten
in arithmetischer Progression wachsen sollen, hingegen die Reiz-
stärken in geometrischer Progression. Indessen ist dieses Fechner'sche
Gesetz, ebenso wie andere psychophysische "Gesetze" mehrfach an-
gegriffen und als "nicht exakt" bezweifelt worden. Jedenfalls
hat die moderne "Psychophysik" die hohen Erwartungen, mit
denen sie vor zwanzig Jahren begrüßt wurde, nicht entfernt
erfüllt; das Gebiet ihrer möglichen Anwendung ist nur sehr be-
schränkt. Indessen hat sie principiell insofern hohen Werth, als
dadurch die strenge Geltung physikalischer Gesetze auf einem,
wenn auch nur sehr kleinen Gebiete des sogenannten "Geistes-
lebens" dargethan wurde -- eine Geltung, welche von der
materialistischen Psychologie schon längst für das ganze Gebiet
des Seelenlebens principiell in Anspruch genommen war. Die

Haeckel, Welträthsel. 8
VI. Methoden der Pſychophyſik.

Pſychophyſik. Ein kleiner Theil der Pſychologie, welcher
der erſtrebten „exakten“ Unterſuchung zugänglich erſcheint, iſt ſeit
zwanzig Jahren mit großer Sorgfalt ſtudirt und zum Range
einer beſonderen Disciplin erhoben worden unter der Bezeichnung
Pſychophyſik. Die Begründer derſelben, die Phyſiologen
Theodor Fechner und Ernſt Heinrich Weber in Leipzig,
unterſuchten zunächſt genau die Abhängigkeit der Empfindungen
von den äußeren, auf die Sinnesorgane wirkenden Reizen und
beſonders das quantitative Verhältniß zwiſchen Reizſtärke und
Empfindungs-Intenſität. Sie fanden, daß zur Erregung einer
Empfindung eine beſtimmte minimale Reizſtärke erforderlich iſt
(die „Reizſchwelle“), und daß ein gegebener Reiz immer um
einen gewiſſen Betrag (die „Unterſchiedsſchwelle“) geändert werden
muß, ehe die Empfindung ſich merklich verändert. Für die wich-
tigſten Sinnes-Empfindungen (Geſicht, Gehör, Druckempfindung)
gilt das Geſetz, daß ihre Aenderung derjenigen der Reizſtärke
proportional iſt. Aus dieſem empiriſchen „Weber'ſchen Geſetz“
leitete Fechner durch mathematiſche Operationen ſein „pſycho-
phyſiſches Grundgeſetz“ ab, wonach die Empfindungs-Intenſitäten
in arithmetiſcher Progreſſion wachſen ſollen, hingegen die Reiz-
ſtärken in geometriſcher Progreſſion. Indeſſen iſt dieſes Fechner'ſche
Geſetz, ebenſo wie andere pſychophyſiſche „Geſetze“ mehrfach an-
gegriffen und als „nicht exakt“ bezweifelt worden. Jedenfalls
hat die moderne „Pſychophyſik“ die hohen Erwartungen, mit
denen ſie vor zwanzig Jahren begrüßt wurde, nicht entfernt
erfüllt; das Gebiet ihrer möglichen Anwendung iſt nur ſehr be-
ſchränkt. Indeſſen hat ſie principiell inſofern hohen Werth, als
dadurch die ſtrenge Geltung phyſikaliſcher Geſetze auf einem,
wenn auch nur ſehr kleinen Gebiete des ſogenannten „Geiſtes-
lebens“ dargethan wurde — eine Geltung, welche von der
materialiſtiſchen Pſychologie ſchon längſt für das ganze Gebiet
des Seelenlebens principiell in Anſpruch genommen war. Die

Haeckel, Welträthſel. 8
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[113/0129] VI. Methoden der Pſychophyſik. Pſychophyſik. Ein kleiner Theil der Pſychologie, welcher der erſtrebten „exakten“ Unterſuchung zugänglich erſcheint, iſt ſeit zwanzig Jahren mit großer Sorgfalt ſtudirt und zum Range einer beſonderen Disciplin erhoben worden unter der Bezeichnung Pſychophyſik. Die Begründer derſelben, die Phyſiologen Theodor Fechner und Ernſt Heinrich Weber in Leipzig, unterſuchten zunächſt genau die Abhängigkeit der Empfindungen von den äußeren, auf die Sinnesorgane wirkenden Reizen und beſonders das quantitative Verhältniß zwiſchen Reizſtärke und Empfindungs-Intenſität. Sie fanden, daß zur Erregung einer Empfindung eine beſtimmte minimale Reizſtärke erforderlich iſt (die „Reizſchwelle“), und daß ein gegebener Reiz immer um einen gewiſſen Betrag (die „Unterſchiedsſchwelle“) geändert werden muß, ehe die Empfindung ſich merklich verändert. Für die wich- tigſten Sinnes-Empfindungen (Geſicht, Gehör, Druckempfindung) gilt das Geſetz, daß ihre Aenderung derjenigen der Reizſtärke proportional iſt. Aus dieſem empiriſchen „Weber'ſchen Geſetz“ leitete Fechner durch mathematiſche Operationen ſein „pſycho- phyſiſches Grundgeſetz“ ab, wonach die Empfindungs-Intenſitäten in arithmetiſcher Progreſſion wachſen ſollen, hingegen die Reiz- ſtärken in geometriſcher Progreſſion. Indeſſen iſt dieſes Fechner'ſche Geſetz, ebenſo wie andere pſychophyſiſche „Geſetze“ mehrfach an- gegriffen und als „nicht exakt“ bezweifelt worden. Jedenfalls hat die moderne „Pſychophyſik“ die hohen Erwartungen, mit denen ſie vor zwanzig Jahren begrüßt wurde, nicht entfernt erfüllt; das Gebiet ihrer möglichen Anwendung iſt nur ſehr be- ſchränkt. Indeſſen hat ſie principiell inſofern hohen Werth, als dadurch die ſtrenge Geltung phyſikaliſcher Geſetze auf einem, wenn auch nur ſehr kleinen Gebiete des ſogenannten „Geiſtes- lebens“ dargethan wurde — eine Geltung, welche von der materialiſtiſchen Pſychologie ſchon längſt für das ganze Gebiet des Seelenlebens principiell in Anſpruch genommen war. Die Haeckel, Welträthſel. 8

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/129>, abgerufen am 21.11.2024.