Skala der Empfindungen. Alle lebendigen Organismen ohne Ausnahme sind empfindlich; sie unterscheiden die Zustände der umgebenden Außenwelt und reagiren darauf durch gewisse Veränderungen in ihrem Innern. Licht und Wärme, Schwer- kraft und Elektricität, mechanische Processe und chemische Vor- gänge in der Umgebung wirken als "Reize" auf das em- pfindliche Psychoplasma und rufen Veränderungen in seiner molekularen Zusammensetzung hervor. Als Hauptstufen seiner Empfindlichkeit oder Sensibilität unterscheiden wir folgende fünf Grade:
I. Auf den untersten Stufen der Organisation ist das ganze Psychoplasma als solches empfindlich und reagirt auf die einwirkenden Reize, so bei den niedersten Protisten, bei vielen Pflanzen und einem Theile der unvollkommensten Thiere. II. Auf der zweiten Stufe beginnen sich an der Oberfläche des Körpers einfachste indifferente Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in Form von Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von Tastorganen und Augen; so bei einem Theile der höheren Protisten, aber auch bei vielen niederen Thieren und Pflanzen. III. Auf der dritten Stufe haben sich aus diesen einfachen Grundlagen durch Differenzirung specifische Sinnes- organe entwickelt, mit eigenthümlicher Anpassung: die chemischen Werkzeuge des Geruchs und Geschmacks, die physikalischen Organe des Tastsinnes und Wärmesinnes, des Gehörs und Gesichts. Die "specifische Energie" dieser höheren Sensillen ist keine ursprüngliche Eigenschaft derselben, sondern durch funktionelle Anpassung und progressive Vererbung stufenweise erworben. IV. Auf der vierten Stufe tritt die Centralisation oder Inte- gration des Nervensystems und damit zugleich diejenige der Empfindung ein; durch Associon der früheren isolirten oder localisirten Empfindungen entstehen Vorstellungen, die zunächst noch unbewußt bleiben, so bei vielen niederen und höheren
Haeckel, Welträthsel. 9
VII. Stufenleiter der Empfindungen.
Skala der Empfindungen. Alle lebendigen Organismen ohne Ausnahme ſind empfindlich; ſie unterſcheiden die Zuſtände der umgebenden Außenwelt und reagiren darauf durch gewiſſe Veränderungen in ihrem Innern. Licht und Wärme, Schwer- kraft und Elektricität, mechaniſche Proceſſe und chemiſche Vor- gänge in der Umgebung wirken als „Reize“ auf das em- pfindliche Pſychoplasma und rufen Veränderungen in ſeiner molekularen Zuſammenſetzung hervor. Als Hauptſtufen ſeiner Empfindlichkeit oder Senſibilität unterſcheiden wir folgende fünf Grade:
I. Auf den unterſten Stufen der Organiſation iſt das ganze Pſychoplasma als ſolches empfindlich und reagirt auf die einwirkenden Reize, ſo bei den niederſten Protiſten, bei vielen Pflanzen und einem Theile der unvollkommenſten Thiere. II. Auf der zweiten Stufe beginnen ſich an der Oberfläche des Körpers einfachſte indifferente Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in Form von Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von Taſtorganen und Augen; ſo bei einem Theile der höheren Protiſten, aber auch bei vielen niederen Thieren und Pflanzen. III. Auf der dritten Stufe haben ſich aus dieſen einfachen Grundlagen durch Differenzirung ſpecifiſche Sinnes- organe entwickelt, mit eigenthümlicher Anpaſſung: die chemiſchen Werkzeuge des Geruchs und Geſchmacks, die phyſikaliſchen Organe des Taſtſinnes und Wärmeſinnes, des Gehörs und Geſichts. Die „ſpecifiſche Energie“ dieſer höheren Senſillen iſt keine urſprüngliche Eigenſchaft derſelben, ſondern durch funktionelle Anpaſſung und progreſſive Vererbung ſtufenweiſe erworben. IV. Auf der vierten Stufe tritt die Centraliſation oder Inte- gration des Nervenſyſtems und damit zugleich diejenige der Empfindung ein; durch Aſſocion der früheren iſolirten oder localiſirten Empfindungen entſtehen Vorſtellungen, die zunächſt noch unbewußt bleiben, ſo bei vielen niederen und höheren
Haeckel, Welträthſel. 9
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VII. Stufenleiter der Empfindungen.
Skala der Empfindungen. Alle lebendigen Organismen
ohne Ausnahme ſind empfindlich; ſie unterſcheiden die Zuſtände
der umgebenden Außenwelt und reagiren darauf durch gewiſſe
Veränderungen in ihrem Innern. Licht und Wärme, Schwer-
kraft und Elektricität, mechaniſche Proceſſe und chemiſche Vor-
gänge in der Umgebung wirken als „Reize“ auf das em-
pfindliche Pſychoplasma und rufen Veränderungen in ſeiner
molekularen Zuſammenſetzung hervor. Als Hauptſtufen ſeiner
Empfindlichkeit oder Senſibilität unterſcheiden wir folgende
fünf Grade:
I. Auf den unterſten Stufen der Organiſation iſt das ganze
Pſychoplasma als ſolches empfindlich und reagirt auf die
einwirkenden Reize, ſo bei den niederſten Protiſten, bei vielen
Pflanzen und einem Theile der unvollkommenſten Thiere. II. Auf
der zweiten Stufe beginnen ſich an der Oberfläche des Körpers
einfachſte indifferente Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in
Form von Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von
Taſtorganen und Augen; ſo bei einem Theile der höheren
Protiſten, aber auch bei vielen niederen Thieren und Pflanzen.
III. Auf der dritten Stufe haben ſich aus dieſen einfachen
Grundlagen durch Differenzirung ſpecifiſche Sinnes-
organe entwickelt, mit eigenthümlicher Anpaſſung: die chemiſchen
Werkzeuge des Geruchs und Geſchmacks, die phyſikaliſchen
Organe des Taſtſinnes und Wärmeſinnes, des Gehörs und
Geſichts. Die „ſpecifiſche Energie“ dieſer höheren Senſillen iſt
keine urſprüngliche Eigenſchaft derſelben, ſondern durch funktionelle
Anpaſſung und progreſſive Vererbung ſtufenweiſe erworben.
IV. Auf der vierten Stufe tritt die Centraliſation oder Inte-
gration des Nervenſyſtems und damit zugleich diejenige
der Empfindung ein; durch Aſſocion der früheren iſolirten oder
localiſirten Empfindungen entſtehen Vorſtellungen, die zunächſt
noch unbewußt bleiben, ſo bei vielen niederen und höheren
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/145>, abgerufen am 21.11.2024.
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