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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VII. Verstand und Vernunft.
gründliche kritische Vergleichung von Romanes u. A. überzeugend
bewiesen. Wir gehen daher auf denselben hier nicht näher ein,
ebenso wenig als auf den Unterschied zwischen Vernunft
(Ratio) und Verstand (Intellectus); über diese Begriffe und
ihre Grenzen, wie über viele andere Grundbegriffe der Psycho-
logie, geben die angesehensten Philosophen die widersprechendsten
Definitionen. Im Allgemeinen kann man sagen, daß die Fähig-
keit der Begriffsbildung, welche beiden Gehirn-Funktionen
gemeinsam ist, beim Verstande den engeren Kreis der konkreten,
näher liegenden Associonen umfaßt, bei der Vernunft dagegen
den weiteren Kreis der abstrakten, umfassenderen Associons-Gruppen.
Auf der langen Stufenleiter, welche von den Reflexthaten und
Instinkten der niederen Thiere zu der Vernunft der höchsten
Thiere hinaufführt, geht der Verstand der letzteren voraus.
Wichtig ist für unsere allgemeine psychologische Betrachtung vor
Allem die Thatsache, daß auch diese höchstentwickelten Seelen-
thätigkeiten den Gesetzen der Vererbung und Anpassung unter-
liegen, ebenso wie ihre Organe; als solche "Denkorgane"
sind beim Menschen und den höheren Säugethieren durch
Flechsig (1894) diejenigen Theile der Großhirnrinde nach-
gewiesen, welche zwischen den vier inneren Sinnesherden liegen
(vergl. Kapitel 10 und 11).

Sprache. Der höhere Grad von Entwickelung der Begriffe,
von Verstand und Vernunft, welcher den Menschen so hoch über
die Thiere erhebt, ist eng verknüpft mit der Ausbildung seiner
Sprache. Aber auch hier, wie dort, ist eine lange Stufenleiter
der Entwickelung nachweisbar, welche ununterbrochen von den
niedersten zu den höchsten Bildungsstufen hinaufführt. Sprache
ist ebenso wenig als Vernunft ein ausschließliches Eigenthum
des Menschen. Vielmehr ist Sprache im weiteren Sinne ein
gemeinsamer Vorzug aller höheren socialen Thiere, mindestens
aller Gliederthiere und Wirbelthiere, welche in Gesellschaften

Haeckel, Welträthsel. 10

VII. Verſtand und Vernunft.
gründliche kritiſche Vergleichung von Romanes u. A. überzeugend
bewieſen. Wir gehen daher auf denſelben hier nicht näher ein,
ebenſo wenig als auf den Unterſchied zwiſchen Vernunft
(Ratio) und Verſtand (Intellectus); über dieſe Begriffe und
ihre Grenzen, wie über viele andere Grundbegriffe der Pſycho-
logie, geben die angeſehenſten Philoſophen die widerſprechendſten
Definitionen. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß die Fähig-
keit der Begriffsbildung, welche beiden Gehirn-Funktionen
gemeinſam iſt, beim Verſtande den engeren Kreis der konkreten,
näher liegenden Aſſocionen umfaßt, bei der Vernunft dagegen
den weiteren Kreis der abſtrakten, umfaſſenderen Aſſocions-Gruppen.
Auf der langen Stufenleiter, welche von den Reflexthaten und
Inſtinkten der niederen Thiere zu der Vernunft der höchſten
Thiere hinaufführt, geht der Verſtand der letzteren voraus.
Wichtig iſt für unſere allgemeine pſychologiſche Betrachtung vor
Allem die Thatſache, daß auch dieſe höchſtentwickelten Seelen-
thätigkeiten den Geſetzen der Vererbung und Anpaſſung unter-
liegen, ebenſo wie ihre Organe; als ſolche „Denkorgane
ſind beim Menſchen und den höheren Säugethieren durch
Flechſig (1894) diejenigen Theile der Großhirnrinde nach-
gewieſen, welche zwiſchen den vier inneren Sinnesherden liegen
(vergl. Kapitel 10 und 11).

Sprache. Der höhere Grad von Entwickelung der Begriffe,
von Verſtand und Vernunft, welcher den Menſchen ſo hoch über
die Thiere erhebt, iſt eng verknüpft mit der Ausbildung ſeiner
Sprache. Aber auch hier, wie dort, iſt eine lange Stufenleiter
der Entwickelung nachweisbar, welche ununterbrochen von den
niederſten zu den höchſten Bildungsſtufen hinaufführt. Sprache
iſt ebenſo wenig als Vernunft ein ausſchließliches Eigenthum
des Menſchen. Vielmehr iſt Sprache im weiteren Sinne ein
gemeinſamer Vorzug aller höheren ſocialen Thiere, mindeſtens
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Haeckel, Welträthſel. 10
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[145/0161] VII. Verſtand und Vernunft. gründliche kritiſche Vergleichung von Romanes u. A. überzeugend bewieſen. Wir gehen daher auf denſelben hier nicht näher ein, ebenſo wenig als auf den Unterſchied zwiſchen Vernunft (Ratio) und Verſtand (Intellectus); über dieſe Begriffe und ihre Grenzen, wie über viele andere Grundbegriffe der Pſycho- logie, geben die angeſehenſten Philoſophen die widerſprechendſten Definitionen. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß die Fähig- keit der Begriffsbildung, welche beiden Gehirn-Funktionen gemeinſam iſt, beim Verſtande den engeren Kreis der konkreten, näher liegenden Aſſocionen umfaßt, bei der Vernunft dagegen den weiteren Kreis der abſtrakten, umfaſſenderen Aſſocions-Gruppen. Auf der langen Stufenleiter, welche von den Reflexthaten und Inſtinkten der niederen Thiere zu der Vernunft der höchſten Thiere hinaufführt, geht der Verſtand der letzteren voraus. Wichtig iſt für unſere allgemeine pſychologiſche Betrachtung vor Allem die Thatſache, daß auch dieſe höchſtentwickelten Seelen- thätigkeiten den Geſetzen der Vererbung und Anpaſſung unter- liegen, ebenſo wie ihre Organe; als ſolche „Denkorgane“ ſind beim Menſchen und den höheren Säugethieren durch Flechſig (1894) diejenigen Theile der Großhirnrinde nach- gewieſen, welche zwiſchen den vier inneren Sinnesherden liegen (vergl. Kapitel 10 und 11). Sprache. Der höhere Grad von Entwickelung der Begriffe, von Verſtand und Vernunft, welcher den Menſchen ſo hoch über die Thiere erhebt, iſt eng verknüpft mit der Ausbildung ſeiner Sprache. Aber auch hier, wie dort, iſt eine lange Stufenleiter der Entwickelung nachweisbar, welche ununterbrochen von den niederſten zu den höchſten Bildungsſtufen hinaufführt. Sprache iſt ebenſo wenig als Vernunft ein ausſchließliches Eigenthum des Menſchen. Vielmehr iſt Sprache im weiteren Sinne ein gemeinſamer Vorzug aller höheren ſocialen Thiere, mindeſtens aller Gliederthiere und Wirbelthiere, welche in Geſellſchaften Haeckel, Welträthſel. 10

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/161>, abgerufen am 25.11.2024.