Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
Gewebe-Seele der Schwammthiere. IX.

Die Spongien oder Schwammthiere stellen einen selbst-
ständigen Stamm des Thierreichs dar, der sich von allen anderen
Metazoen durch seine eigenthümliche Organisation unterscheidet;
die sehr zahlreichen Arten desselben sitzen meistens auf dem
Meeresboden angewachsen. Die einfachste Form der Schwämme,
Olynthus, ist eigentlich nichts weiter als eine Gastraea, deren
Körperwand siebförmig von feinen Poren durchbrochen ist, zum
Eintritt des ernährenden Wasserstromes. Bei den meisten Spongien
(auch beim bekanntesten, dem Badeschwamm) bildet der knollen-
förmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tausenden
solcher Gasträaden ("Geißelkammern") zusammengesetzt und von
einem ernährenden Kanal-System durchzogen ist. Empfindung
und Bewegung sind bei den Schwammthieren nur in äußerst ge-
ringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln
fehlen. Es war daher sehr natürlich, daß man diese festsitzenden,
unförmigen und unempfindlichen Thiere früher allgemein als
"Gewächse" betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine be-
sonderen Organe differenzirt sind) steht tief unter demjenigen der
Mimosen und anderer empfindlicher Pflanzen.

Die Seele der Nesselthiere (Cnidaria) ist für die ver-
gleichende und phylogenetische Psychologie von ganz hervor-
ragender Bedeutung. Denn in diesem formenreichen Stamm der
Cölenterien vollzieht sich vor unseren Augen die historische Ent-
stehung der Nervenseele aus der Gewebeseele. Es ge-
hören zu diesem Stamme die vielgestaltigen Klassen der fest-
sitzenden Polypen und Korallen, der schwimmenden Medusen und
Siphonophoren. Als gemeinsame hypothetische Stammform aller
Nesselthiere läßt sich mit voller Sicherheit ein einfachster Polyp
erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwasser-
Polypen (Hydra) im Wesentlichen gleich gebaut war. Nun
besitzen aber diese Hydra und ebenso die festsitzenden, nahe ver-
wandten Hydropolypen noch keine Nerven und höheren

Gewebe-Seele der Schwammthiere. IX.

Die Spongien oder Schwammthiere ſtellen einen ſelbſt-
ſtändigen Stamm des Thierreichs dar, der ſich von allen anderen
Metazoen durch ſeine eigenthümliche Organiſation unterſcheidet;
die ſehr zahlreichen Arten desſelben ſitzen meiſtens auf dem
Meeresboden angewachſen. Die einfachſte Form der Schwämme,
Olynthuſ, iſt eigentlich nichts weiter als eine Gaſtraea, deren
Körperwand ſiebförmig von feinen Poren durchbrochen iſt, zum
Eintritt des ernährenden Waſſerſtromes. Bei den meiſten Spongien
(auch beim bekannteſten, dem Badeſchwamm) bildet der knollen-
förmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tauſenden
ſolcher Gaſträaden („Geißelkammern“) zuſammengeſetzt und von
einem ernährenden Kanal-Syſtem durchzogen iſt. Empfindung
und Bewegung ſind bei den Schwammthieren nur in äußerſt ge-
ringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln
fehlen. Es war daher ſehr natürlich, daß man dieſe feſtſitzenden,
unförmigen und unempfindlichen Thiere früher allgemein als
„Gewächſe“ betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine be-
ſonderen Organe differenzirt ſind) ſteht tief unter demjenigen der
Mimoſen und anderer empfindlicher Pflanzen.

Die Seele der Neſſelthiere (Cnidaria) iſt für die ver-
gleichende und phylogenetiſche Pſychologie von ganz hervor-
ragender Bedeutung. Denn in dieſem formenreichen Stamm der
Cölenterien vollzieht ſich vor unſeren Augen die hiſtoriſche Ent-
ſtehung der Nervenſeele aus der Gewebeſeele. Es ge-
hören zu dieſem Stamme die vielgeſtaltigen Klaſſen der feſt-
ſitzenden Polypen und Korallen, der ſchwimmenden Meduſen und
Siphonophoren. Als gemeinſame hypothetiſche Stammform aller
Neſſelthiere läßt ſich mit voller Sicherheit ein einfachſter Polyp
erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwaſſer-
Polypen (Hydra) im Weſentlichen gleich gebaut war. Nun
beſitzen aber dieſe Hydra und ebenſo die feſtſitzenden, nahe ver-
wandten Hydropolypen noch keine Nerven und höheren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0202" n="186"/>
          <fw place="top" type="header">Gewebe-Seele der Schwammthiere. <hi rendition="#aq">IX.</hi></fw><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Die Spongien oder Schwammthiere</hi> &#x017F;tellen einen &#x017F;elb&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;tändigen Stamm des Thierreichs dar, der &#x017F;ich von allen anderen<lb/>
Metazoen durch &#x017F;eine eigenthümliche Organi&#x017F;ation unter&#x017F;cheidet;<lb/>
die &#x017F;ehr zahlreichen Arten des&#x017F;elben &#x017F;itzen mei&#x017F;tens auf dem<lb/>
Meeresboden angewach&#x017F;en. Die einfach&#x017F;te Form der Schwämme,<lb/><hi rendition="#aq">Olynthu&#x017F;</hi>, i&#x017F;t eigentlich nichts weiter als eine <hi rendition="#aq">Ga&#x017F;traea</hi>, deren<lb/>
Körperwand &#x017F;iebförmig von feinen Poren durchbrochen i&#x017F;t, zum<lb/>
Eintritt des ernährenden Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;tromes. Bei den mei&#x017F;ten Spongien<lb/>
(auch beim bekannte&#x017F;ten, dem Bade&#x017F;chwamm) bildet der knollen-<lb/>
förmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tau&#x017F;enden<lb/>
&#x017F;olcher Ga&#x017F;träaden (&#x201E;Geißelkammern&#x201C;) zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzt und von<lb/>
einem ernährenden Kanal-Sy&#x017F;tem durchzogen i&#x017F;t. Empfindung<lb/>
und Bewegung &#x017F;ind bei den Schwammthieren nur in äußer&#x017F;t ge-<lb/>
ringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln<lb/>
fehlen. Es war daher &#x017F;ehr natürlich, daß man die&#x017F;e fe&#x017F;t&#x017F;itzenden,<lb/>
unförmigen und unempfindlichen Thiere früher allgemein als<lb/>
&#x201E;Gewäch&#x017F;e&#x201C; betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine be-<lb/>
&#x017F;onderen Organe differenzirt &#x017F;ind) &#x017F;teht tief unter demjenigen der<lb/>
Mimo&#x017F;en und anderer empfindlicher Pflanzen.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Die Seele der Ne&#x017F;&#x017F;elthiere <hi rendition="#aq">(Cnidaria)</hi></hi> i&#x017F;t für die ver-<lb/>
gleichende und phylogeneti&#x017F;che P&#x017F;ychologie von ganz hervor-<lb/>
ragender Bedeutung. Denn in die&#x017F;em formenreichen Stamm der<lb/>
Cölenterien vollzieht &#x017F;ich vor un&#x017F;eren Augen die hi&#x017F;tori&#x017F;che Ent-<lb/>
&#x017F;tehung der <hi rendition="#g">Nerven&#x017F;eele</hi> aus der <hi rendition="#g">Gewebe&#x017F;eele</hi>. Es ge-<lb/>
hören zu die&#x017F;em Stamme die vielge&#x017F;taltigen Kla&#x017F;&#x017F;en der fe&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;itzenden Polypen und Korallen, der &#x017F;chwimmenden Medu&#x017F;en und<lb/>
Siphonophoren. Als gemein&#x017F;ame hypotheti&#x017F;che Stammform aller<lb/>
Ne&#x017F;&#x017F;elthiere läßt &#x017F;ich mit voller Sicherheit ein einfach&#x017F;ter <hi rendition="#g">Polyp</hi><lb/>
erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwa&#x017F;&#x017F;er-<lb/>
Polypen <hi rendition="#aq">(Hydra)</hi> im We&#x017F;entlichen gleich gebaut war. Nun<lb/>
be&#x017F;itzen aber die&#x017F;e Hydra und eben&#x017F;o die fe&#x017F;t&#x017F;itzenden, nahe ver-<lb/>
wandten <hi rendition="#g">Hydropolypen</hi> noch keine Nerven und höheren<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[186/0202] Gewebe-Seele der Schwammthiere. IX. Die Spongien oder Schwammthiere ſtellen einen ſelbſt- ſtändigen Stamm des Thierreichs dar, der ſich von allen anderen Metazoen durch ſeine eigenthümliche Organiſation unterſcheidet; die ſehr zahlreichen Arten desſelben ſitzen meiſtens auf dem Meeresboden angewachſen. Die einfachſte Form der Schwämme, Olynthuſ, iſt eigentlich nichts weiter als eine Gaſtraea, deren Körperwand ſiebförmig von feinen Poren durchbrochen iſt, zum Eintritt des ernährenden Waſſerſtromes. Bei den meiſten Spongien (auch beim bekannteſten, dem Badeſchwamm) bildet der knollen- förmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tauſenden ſolcher Gaſträaden („Geißelkammern“) zuſammengeſetzt und von einem ernährenden Kanal-Syſtem durchzogen iſt. Empfindung und Bewegung ſind bei den Schwammthieren nur in äußerſt ge- ringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln fehlen. Es war daher ſehr natürlich, daß man dieſe feſtſitzenden, unförmigen und unempfindlichen Thiere früher allgemein als „Gewächſe“ betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine be- ſonderen Organe differenzirt ſind) ſteht tief unter demjenigen der Mimoſen und anderer empfindlicher Pflanzen. Die Seele der Neſſelthiere (Cnidaria) iſt für die ver- gleichende und phylogenetiſche Pſychologie von ganz hervor- ragender Bedeutung. Denn in dieſem formenreichen Stamm der Cölenterien vollzieht ſich vor unſeren Augen die hiſtoriſche Ent- ſtehung der Nervenſeele aus der Gewebeſeele. Es ge- hören zu dieſem Stamme die vielgeſtaltigen Klaſſen der feſt- ſitzenden Polypen und Korallen, der ſchwimmenden Meduſen und Siphonophoren. Als gemeinſame hypothetiſche Stammform aller Neſſelthiere läßt ſich mit voller Sicherheit ein einfachſter Polyp erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwaſſer- Polypen (Hydra) im Weſentlichen gleich gebaut war. Nun beſitzen aber dieſe Hydra und ebenſo die feſtſitzenden, nahe ver- wandten Hydropolypen noch keine Nerven und höheren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/202
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/202>, abgerufen am 21.11.2024.