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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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X. Ontogenie des Bewußtseins.
das Kind durch den Unterricht der Eltern und der Schule in
den ersten zehn Lebensjahren macht, und später langsamer im
zweiten Decennium bis zur vollendeten geistigen Reife, sind eng
verknüpft mit unzähligen Fortschritten im Wachsthum und in
der Entwickelung des Bewußtseins und mit derjenigen seines
Organs, des Gehirns. Aber auch wenn der Schüler das
"Zeugniß der Reife" erlangt hat, so ist in Wahrheit sein Be-
wußtsein noch lange nicht reif, und jetzt beginnt erst recht, in
vielseitiger Berührung mit der Außenwelt, das "Welt-
bewußtsein
" sich zu entwickeln. Jetzt erst reift im dritten
Decennium jene volle Ausbildung des vernünftigen Denkens und
damit des Bewußtseins, welche dann bei normaler Entwickelung
in den folgenden drei Jahrzehnten ihre reifen Früchte trägt.
Gewöhnlich mit Beginn des siebenten Decenniums (bald früher,
bald später) beginnt dann jene langsame und allmähliche Rück-
bildung der höheren Geistesthätigkeit, welche das Greisenalter
charakterisirt. Gedächtniß, Receptions-Fähigkeit und Interesse
an speciellen Objekten nehmen mehr und mehr ab; dagegen bleibt
die Produktionsfähigkeit, das gereifte Bewußtsein und das philo-
sophische Interesse an allgemeinen Beziehungen oft noch lange
erhalten. Die individuelle Entwickelung des Bewußtseins in
früher Jugend beweist die allgemeine Geltung des biogenetischen
Grundgesetzes
; aber auch in späteren Jahren ist dieselbe
noch vielfach erkennbar. Jedenfalls überzeugt uns die Onto-
genese des Bewußtseins aufs Klarste von der Thatsache, daß
dasselbe kein "immaterielles Wesen", sondern eine physiologische
Funktion des Gehirns ist, und daß es also auch keine Ausnahme
vom Substanz-Gesetze bildet.

Phylogenie des Bewußtseins. Die Thatsache, daß das
Bewußtsein, gleich allen anderen Seelenthätigkeiten, an die
normale Ausbildung bestimmter Organe gebunden ist, und daß
sich dasselbe beim Kinde, in Zusammenhang mit diesen Gehirn-

X. Ontogenie des Bewußtſeins.
das Kind durch den Unterricht der Eltern und der Schule in
den erſten zehn Lebensjahren macht, und ſpäter langſamer im
zweiten Decennium bis zur vollendeten geiſtigen Reife, ſind eng
verknüpft mit unzähligen Fortſchritten im Wachsthum und in
der Entwickelung des Bewußtſeins und mit derjenigen ſeines
Organs, des Gehirns. Aber auch wenn der Schüler das
„Zeugniß der Reife“ erlangt hat, ſo iſt in Wahrheit ſein Be-
wußtſein noch lange nicht reif, und jetzt beginnt erſt recht, in
vielſeitiger Berührung mit der Außenwelt, das „Welt-
bewußtſein
“ ſich zu entwickeln. Jetzt erſt reift im dritten
Decennium jene volle Ausbildung des vernünftigen Denkens und
damit des Bewußtſeins, welche dann bei normaler Entwickelung
in den folgenden drei Jahrzehnten ihre reifen Früchte trägt.
Gewöhnlich mit Beginn des ſiebenten Decenniums (bald früher,
bald ſpäter) beginnt dann jene langſame und allmähliche Rück-
bildung der höheren Geiſtesthätigkeit, welche das Greiſenalter
charakteriſirt. Gedächtniß, Receptions-Fähigkeit und Intereſſe
an ſpeciellen Objekten nehmen mehr und mehr ab; dagegen bleibt
die Produktionsfähigkeit, das gereifte Bewußtſein und das philo-
ſophiſche Intereſſe an allgemeinen Beziehungen oft noch lange
erhalten. Die individuelle Entwickelung des Bewußtſeins in
früher Jugend beweiſt die allgemeine Geltung des biogenetiſchen
Grundgeſetzes
; aber auch in ſpäteren Jahren iſt dieſelbe
noch vielfach erkennbar. Jedenfalls überzeugt uns die Onto-
geneſe des Bewußtſeins aufs Klarſte von der Thatſache, daß
dasſelbe kein „immaterielles Weſen“, ſondern eine phyſiologiſche
Funktion des Gehirns iſt, und daß es alſo auch keine Ausnahme
vom Subſtanz-Geſetze bildet.

Phylogenie des Bewußtſeins. Die Thatſache, daß das
Bewußtſein, gleich allen anderen Seelenthätigkeiten, an die
normale Ausbildung beſtimmter Organe gebunden iſt, und daß
ſich dasſelbe beim Kinde, in Zuſammenhang mit dieſen Gehirn-

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[215/0231] X. Ontogenie des Bewußtſeins. das Kind durch den Unterricht der Eltern und der Schule in den erſten zehn Lebensjahren macht, und ſpäter langſamer im zweiten Decennium bis zur vollendeten geiſtigen Reife, ſind eng verknüpft mit unzähligen Fortſchritten im Wachsthum und in der Entwickelung des Bewußtſeins und mit derjenigen ſeines Organs, des Gehirns. Aber auch wenn der Schüler das „Zeugniß der Reife“ erlangt hat, ſo iſt in Wahrheit ſein Be- wußtſein noch lange nicht reif, und jetzt beginnt erſt recht, in vielſeitiger Berührung mit der Außenwelt, das „Welt- bewußtſein“ ſich zu entwickeln. Jetzt erſt reift im dritten Decennium jene volle Ausbildung des vernünftigen Denkens und damit des Bewußtſeins, welche dann bei normaler Entwickelung in den folgenden drei Jahrzehnten ihre reifen Früchte trägt. Gewöhnlich mit Beginn des ſiebenten Decenniums (bald früher, bald ſpäter) beginnt dann jene langſame und allmähliche Rück- bildung der höheren Geiſtesthätigkeit, welche das Greiſenalter charakteriſirt. Gedächtniß, Receptions-Fähigkeit und Intereſſe an ſpeciellen Objekten nehmen mehr und mehr ab; dagegen bleibt die Produktionsfähigkeit, das gereifte Bewußtſein und das philo- ſophiſche Intereſſe an allgemeinen Beziehungen oft noch lange erhalten. Die individuelle Entwickelung des Bewußtſeins in früher Jugend beweiſt die allgemeine Geltung des biogenetiſchen Grundgeſetzes; aber auch in ſpäteren Jahren iſt dieſelbe noch vielfach erkennbar. Jedenfalls überzeugt uns die Onto- geneſe des Bewußtſeins aufs Klarſte von der Thatſache, daß dasſelbe kein „immaterielles Weſen“, ſondern eine phyſiologiſche Funktion des Gehirns iſt, und daß es alſo auch keine Ausnahme vom Subſtanz-Geſetze bildet. Phylogenie des Bewußtſeins. Die Thatſache, daß das Bewußtſein, gleich allen anderen Seelenthätigkeiten, an die normale Ausbildung beſtimmter Organe gebunden iſt, und daß ſich dasſelbe beim Kinde, in Zuſammenhang mit dieſen Gehirn-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/231>, abgerufen am 21.11.2024.