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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XI. Primärer Thanatismus.

Primärer Thanatismus (ursprünglicher Mangel der
Unsterblichkeits-Idee).
In vielen philosophischen und besonders
theologischen Schriften lesen wir noch heute die Behauptung,
daß der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit der menschlichen
Seele allen Menschen -- oder doch allen "vernünftigen Menschen" --
ursprünglich gemeinsam sei. Das ist falsch. Dieses Dogma ist
weder eine ursprüngliche Vorstellung der menschlichen Vernunft,
noch hat es jemals allgemeine Verbreitung gehabt. In dieser
Beziehung ist vor Allem wichtig die sichere, erst neuerdings durch
die vergleichende Ethnologie festgestellte Thatsache, daß mehrere
Naturvölker der ältesten und primitivsten Stufe ebenso wenig
von einer Unsterblichkeit als von einem Gotte irgend eine Vor-
stellung haben. Das gilt namentlich von den Weddas auf
Ceylon, jenen primitiven Pygmäen, die wir auf Grund der aus-
gezeichneten Forschungen der Herren Sarasin für einen Ueber-
rest der ältesten indischen "Urmenschen" halten *); ferner von
mehreren ältesten Stämmen der nächstverwandten Dravidas, von
den indischen Seelongs und einigen Stämmen der Austral-
neger. Ebenso kennen mehrere der primitivsten Urvölker der
amerikanischen Rasse, im inneren Brasilien, am oberen Amazonen-
Strom u. s. w., weder Götter noch Unsterblichkeit. Dieser
primäre Mangel des Unsterblichkeits- und Gottes-Glaubens
ist eine höchst wichtige Thatsache; er ist selbstverständlich wohl
zu unterscheiden von dem sekundären Mangel desselben, wel-
chen erst der höchstentwickelte Kultur-Mensch auf Grund kritisch-
philosophischer Studien spät und mühsam gewonnen hat.

Sekundärer Thanatismus (erworbener Mangel der
Unsterblichkeits-Idee).
Im Gegensatze zu dem primären Tha-
natismus, der sicher bei den ältesten Urmenschen ursprünglich
bestand und immer eine weite Verbreitung besaß, ist der sekundäre

*) E. Haeckel, Indische Reisebriefe. Dritte Auflage 1893. S. 384.
XI. Primärer Thanatismus.

Primärer Thanatismus (urſprünglicher Mangel der
Unſterblichkeits-Idee).
In vielen philoſophiſchen und beſonders
theologiſchen Schriften leſen wir noch heute die Behauptung,
daß der Glaube an die perſönliche Unſterblichkeit der menſchlichen
Seele allen Menſchen — oder doch allen „vernünftigen Menſchen“ —
urſprünglich gemeinſam ſei. Das iſt falſch. Dieſes Dogma iſt
weder eine urſprüngliche Vorſtellung der menſchlichen Vernunft,
noch hat es jemals allgemeine Verbreitung gehabt. In dieſer
Beziehung iſt vor Allem wichtig die ſichere, erſt neuerdings durch
die vergleichende Ethnologie feſtgeſtellte Thatſache, daß mehrere
Naturvölker der älteſten und primitivſten Stufe ebenſo wenig
von einer Unſterblichkeit als von einem Gotte irgend eine Vor-
ſtellung haben. Das gilt namentlich von den Weddas auf
Ceylon, jenen primitiven Pygmäen, die wir auf Grund der aus-
gezeichneten Forſchungen der Herren Saraſin für einen Ueber-
reſt der älteſten indiſchen „Urmenſchen“ halten *); ferner von
mehreren älteſten Stämmen der nächſtverwandten Dravidas, von
den indiſchen Seelongs und einigen Stämmen der Auſtral-
neger. Ebenſo kennen mehrere der primitivſten Urvölker der
amerikaniſchen Raſſe, im inneren Braſilien, am oberen Amazonen-
Strom u. ſ. w., weder Götter noch Unſterblichkeit. Dieſer
primäre Mangel des Unſterblichkeits- und Gottes-Glaubens
iſt eine höchſt wichtige Thatſache; er iſt ſelbſtverſtändlich wohl
zu unterſcheiden von dem ſekundären Mangel desſelben, wel-
chen erſt der höchſtentwickelte Kultur-Menſch auf Grund kritiſch-
philoſophiſcher Studien ſpät und mühſam gewonnen hat.

Sekundärer Thanatismus (erworbener Mangel der
Unſterblichkeits-Idee).
Im Gegenſatze zu dem primären Tha-
natismus, der ſicher bei den älteſten Urmenſchen urſprünglich
beſtand und immer eine weite Verbreitung beſaß, iſt der ſekundäre

*) E. Haeckel, Indiſche Reiſebriefe. Dritte Auflage 1893. S. 384.
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[223/0239] XI. Primärer Thanatismus. Primärer Thanatismus (urſprünglicher Mangel der Unſterblichkeits-Idee). In vielen philoſophiſchen und beſonders theologiſchen Schriften leſen wir noch heute die Behauptung, daß der Glaube an die perſönliche Unſterblichkeit der menſchlichen Seele allen Menſchen — oder doch allen „vernünftigen Menſchen“ — urſprünglich gemeinſam ſei. Das iſt falſch. Dieſes Dogma iſt weder eine urſprüngliche Vorſtellung der menſchlichen Vernunft, noch hat es jemals allgemeine Verbreitung gehabt. In dieſer Beziehung iſt vor Allem wichtig die ſichere, erſt neuerdings durch die vergleichende Ethnologie feſtgeſtellte Thatſache, daß mehrere Naturvölker der älteſten und primitivſten Stufe ebenſo wenig von einer Unſterblichkeit als von einem Gotte irgend eine Vor- ſtellung haben. Das gilt namentlich von den Weddas auf Ceylon, jenen primitiven Pygmäen, die wir auf Grund der aus- gezeichneten Forſchungen der Herren Saraſin für einen Ueber- reſt der älteſten indiſchen „Urmenſchen“ halten *); ferner von mehreren älteſten Stämmen der nächſtverwandten Dravidas, von den indiſchen Seelongs und einigen Stämmen der Auſtral- neger. Ebenſo kennen mehrere der primitivſten Urvölker der amerikaniſchen Raſſe, im inneren Braſilien, am oberen Amazonen- Strom u. ſ. w., weder Götter noch Unſterblichkeit. Dieſer primäre Mangel des Unſterblichkeits- und Gottes-Glaubens iſt eine höchſt wichtige Thatſache; er iſt ſelbſtverſtändlich wohl zu unterſcheiden von dem ſekundären Mangel desſelben, wel- chen erſt der höchſtentwickelte Kultur-Menſch auf Grund kritiſch- philoſophiſcher Studien ſpät und mühſam gewonnen hat. Sekundärer Thanatismus (erworbener Mangel der Unſterblichkeits-Idee). Im Gegenſatze zu dem primären Tha- natismus, der ſicher bei den älteſten Urmenſchen urſprünglich beſtand und immer eine weite Verbreitung beſaß, iſt der ſekundäre *) E. Haeckel, Indiſche Reiſebriefe. Dritte Auflage 1893. S. 384.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/239>, abgerufen am 21.11.2024.