Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Ziel, Zweck und Zufall. XIV.
dem "blinden Zufall" zu überlassen. Dieser Vorwurf ist in
der That ebenso dem Transformismus von Lamarck und
Darwin wie früher der Kosmogenie von Kant und
Laplace entgegengehalten worden; viele dualistische Philosophen
legen gerade hierauf besonders Gewicht. Es verlohnt sich daher
wohl der Mühe, hier noch einen flüchtigen Blick darauf zu werfen.

Die eine Gruppe der Philosophen behauptet nach ihrer
teleologischen Auffassung: die ganze Welt ist ein geordneter
Kosmos, in dem alle Erscheinungen Ziel und Zweck haben; es
gibt keinen Zufall! die andere Gruppe dagegen meint ge-
mäß ihrer mechanistischen Auffassung: Die Entwickelung der
ganzen Welt ist ein einheitlich mechanischer Proceß, in dem wir
nirgends Ziel und Zweck entdecken können; was wir im organischen
Leben so nennen, ist eine besondere Folge der biologischen Ver-
hältnisse; weder in der Entwickelung der Weltkörper, noch der-
jenigen unserer anorganischen Erdrinde ist ein leitender Zweck
nachzuweisen; hier ist Alles Zufall! Beide Parteien haben
Recht, je nach der Definition des "Zufalls". Das allgemeine
Kausal-Gesetz, in Verbindung mit dem Substanz-Gesetz,
überzeugt uns, daß jede Erscheinung ihre mechanische Ursache
hat; in diesem Sinne gibt es keinen Zufall. Wohl aber können
und müssen wir diesen unentbehrlichen Begriff beibehalten, um
damit das Zusammentreffen von zwei Erscheinungen zu bezeichnen,
die nicht unter sich kausal verknüpft sind, von denen aber natürlich
jede ihre Ursache hat, unabhängig von der anderen. Wie Jeder-
mann weiß, spielt der Zufall in diesem monistischen Sinne die
größte Rolle im Leben des Menschen wie in demjenigen aller
anderen Naturkörper. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem
einzelnen "Zufall" wie in der Entwickelung desWeltganzen
die universale Herrschaft des umfassendsten Naturgesetzes aner-
kennen, des Substanz-Gesetzes.



Ziel, Zweck und Zufall. XIV.
dem „blinden Zufall“ zu überlaſſen. Dieſer Vorwurf iſt in
der That ebenſo dem Transformismus von Lamarck und
Darwin wie früher der Kosmogenie von Kant und
Laplace entgegengehalten worden; viele dualiſtiſche Philoſophen
legen gerade hierauf beſonders Gewicht. Es verlohnt ſich daher
wohl der Mühe, hier noch einen flüchtigen Blick darauf zu werfen.

Die eine Gruppe der Philoſophen behauptet nach ihrer
teleologiſchen Auffaſſung: die ganze Welt iſt ein geordneter
Kosmos, in dem alle Erſcheinungen Ziel und Zweck haben; es
gibt keinen Zufall! die andere Gruppe dagegen meint ge-
mäß ihrer mechaniſtiſchen Auffaſſung: Die Entwickelung der
ganzen Welt iſt ein einheitlich mechaniſcher Proceß, in dem wir
nirgends Ziel und Zweck entdecken können; was wir im organiſchen
Leben ſo nennen, iſt eine beſondere Folge der biologiſchen Ver-
hältniſſe; weder in der Entwickelung der Weltkörper, noch der-
jenigen unſerer anorganiſchen Erdrinde iſt ein leitender Zweck
nachzuweiſen; hier iſt Alles Zufall! Beide Parteien haben
Recht, je nach der Definition des „Zufalls“. Das allgemeine
Kausal-Geſetz, in Verbindung mit dem Subſtanz-Geſetz,
überzeugt uns, daß jede Erſcheinung ihre mechaniſche Urſache
hat; in dieſem Sinne gibt es keinen Zufall. Wohl aber können
und müſſen wir dieſen unentbehrlichen Begriff beibehalten, um
damit das Zuſammentreffen von zwei Erſcheinungen zu bezeichnen,
die nicht unter ſich kauſal verknüpft ſind, von denen aber natürlich
jede ihre Urſache hat, unabhängig von der anderen. Wie Jeder-
mann weiß, ſpielt der Zufall in dieſem moniſtiſchen Sinne die
größte Rolle im Leben des Menſchen wie in demjenigen aller
anderen Naturkörper. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem
einzelnen „Zufall“ wie in der Entwickelung desWeltganzen
die univerſale Herrſchaft des umfaſſendſten Naturgeſetzes aner-
kennen, des Subſtanz-Geſetzes.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0332" n="316"/><fw place="top" type="header">Ziel, Zweck und Zufall. <hi rendition="#aq">XIV.</hi></fw><lb/>
dem &#x201E;<hi rendition="#g">blinden Zufall</hi>&#x201C; zu überla&#x017F;&#x017F;en. Die&#x017F;er Vorwurf i&#x017F;t in<lb/>
der That eben&#x017F;o dem <hi rendition="#g">Transformismus</hi> von <hi rendition="#g">Lamarck</hi> und<lb/><hi rendition="#g">Darwin</hi> wie früher der <hi rendition="#g">Kosmogenie</hi> von <hi rendition="#g">Kant</hi> und<lb/><hi rendition="#g">Laplace</hi> entgegengehalten worden; viele duali&#x017F;ti&#x017F;che Philo&#x017F;ophen<lb/>
legen gerade hierauf be&#x017F;onders Gewicht. Es verlohnt &#x017F;ich daher<lb/>
wohl der Mühe, hier noch einen flüchtigen Blick darauf zu werfen.</p><lb/>
          <p>Die eine Gruppe der Philo&#x017F;ophen behauptet nach ihrer<lb/><hi rendition="#g">teleologi&#x017F;chen</hi> Auffa&#x017F;&#x017F;ung: die ganze Welt i&#x017F;t ein geordneter<lb/>
Kosmos, in dem alle Er&#x017F;cheinungen Ziel und Zweck haben; es<lb/>
gibt <hi rendition="#g">keinen Zufall</hi>! die andere Gruppe dagegen meint ge-<lb/>
mäß ihrer <hi rendition="#g">mechani&#x017F;ti&#x017F;chen</hi> Auffa&#x017F;&#x017F;ung: Die Entwickelung der<lb/>
ganzen Welt i&#x017F;t ein einheitlich mechani&#x017F;cher Proceß, in dem wir<lb/>
nirgends Ziel und Zweck entdecken können; was wir im organi&#x017F;chen<lb/>
Leben &#x017F;o nennen, i&#x017F;t eine be&#x017F;ondere Folge der biologi&#x017F;chen Ver-<lb/>
hältni&#x017F;&#x017F;e; weder in der Entwickelung der Weltkörper, noch der-<lb/>
jenigen un&#x017F;erer anorgani&#x017F;chen Erdrinde i&#x017F;t ein leitender Zweck<lb/>
nachzuwei&#x017F;en; hier i&#x017F;t <hi rendition="#g">Alles Zufall</hi>! Beide Parteien haben<lb/>
Recht, je nach der Definition des &#x201E;Zufalls&#x201C;. Das allgemeine<lb/><hi rendition="#g">Kausal-Ge&#x017F;etz</hi>, in Verbindung mit dem Sub&#x017F;tanz-Ge&#x017F;etz,<lb/>
überzeugt uns, daß jede Er&#x017F;cheinung ihre mechani&#x017F;che Ur&#x017F;ache<lb/>
hat; in die&#x017F;em Sinne gibt es keinen Zufall. Wohl aber können<lb/>
und mü&#x017F;&#x017F;en wir die&#x017F;en unentbehrlichen Begriff beibehalten, um<lb/>
damit das Zu&#x017F;ammentreffen von zwei Er&#x017F;cheinungen zu bezeichnen,<lb/>
die nicht unter &#x017F;ich kau&#x017F;al verknüpft &#x017F;ind, von denen aber natürlich<lb/>
jede ihre Ur&#x017F;ache hat, unabhängig von der anderen. Wie Jeder-<lb/>
mann weiß, &#x017F;pielt der Zufall in die&#x017F;em moni&#x017F;ti&#x017F;chen Sinne die<lb/>
größte Rolle im Leben des Men&#x017F;chen wie in demjenigen aller<lb/>
anderen Naturkörper. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem<lb/>
einzelnen &#x201E;<hi rendition="#g">Zufall</hi>&#x201C; wie in der Entwickelung desWeltganzen<lb/>
die univer&#x017F;ale Herr&#x017F;chaft des umfa&#x017F;&#x017F;end&#x017F;ten Naturge&#x017F;etzes aner-<lb/>
kennen, des <hi rendition="#g">Sub&#x017F;tanz-Ge&#x017F;etzes</hi>.</p>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[316/0332] Ziel, Zweck und Zufall. XIV. dem „blinden Zufall“ zu überlaſſen. Dieſer Vorwurf iſt in der That ebenſo dem Transformismus von Lamarck und Darwin wie früher der Kosmogenie von Kant und Laplace entgegengehalten worden; viele dualiſtiſche Philoſophen legen gerade hierauf beſonders Gewicht. Es verlohnt ſich daher wohl der Mühe, hier noch einen flüchtigen Blick darauf zu werfen. Die eine Gruppe der Philoſophen behauptet nach ihrer teleologiſchen Auffaſſung: die ganze Welt iſt ein geordneter Kosmos, in dem alle Erſcheinungen Ziel und Zweck haben; es gibt keinen Zufall! die andere Gruppe dagegen meint ge- mäß ihrer mechaniſtiſchen Auffaſſung: Die Entwickelung der ganzen Welt iſt ein einheitlich mechaniſcher Proceß, in dem wir nirgends Ziel und Zweck entdecken können; was wir im organiſchen Leben ſo nennen, iſt eine beſondere Folge der biologiſchen Ver- hältniſſe; weder in der Entwickelung der Weltkörper, noch der- jenigen unſerer anorganiſchen Erdrinde iſt ein leitender Zweck nachzuweiſen; hier iſt Alles Zufall! Beide Parteien haben Recht, je nach der Definition des „Zufalls“. Das allgemeine Kausal-Geſetz, in Verbindung mit dem Subſtanz-Geſetz, überzeugt uns, daß jede Erſcheinung ihre mechaniſche Urſache hat; in dieſem Sinne gibt es keinen Zufall. Wohl aber können und müſſen wir dieſen unentbehrlichen Begriff beibehalten, um damit das Zuſammentreffen von zwei Erſcheinungen zu bezeichnen, die nicht unter ſich kauſal verknüpft ſind, von denen aber natürlich jede ihre Urſache hat, unabhängig von der anderen. Wie Jeder- mann weiß, ſpielt der Zufall in dieſem moniſtiſchen Sinne die größte Rolle im Leben des Menſchen wie in demjenigen aller anderen Naturkörper. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem einzelnen „Zufall“ wie in der Entwickelung desWeltganzen die univerſale Herrſchaft des umfaſſendſten Naturgeſetzes aner- kennen, des Subſtanz-Geſetzes.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/332
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/332>, abgerufen am 22.11.2024.