Die Vorstellungen, welche die Lücken des Wissens ausfüllen oder an dessen Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als "Glauben" bezeichnen. So geschieht es fortwährend im all- täglichen Leben. Wenn wir irgend eine Thatsache nicht sicher wissen, so sagen wir: Ich glaube sie. In diesem Sinne sind wir auch in der Wissenschaft selbst zum Glauben gezwungen; wir vermuthen oder nehmen an, daß ein bestimmtes Verhältniß zwischen zwei Erscheinungen besteht, obwohl wir dasselbe nicht sicher kennen. Handelt es sich dabei um die Erkenntniß von Ursachen, so bilden wir uns eine Hypothese. Indessen dürfen in der Wissenschaft nur solche Hypothesen zugelassen werden, die innerhalb des menschlichen Erkenntniß-Vermögens liegen, und die nicht bekannten Thatsachen widersprechen. Solche Hypothesen sind z. B. in der Physik die Lehre von Vibrationen des Aethers, in der Chemie die Annahme der Atome und deren Wahlverwandtschaft, in der Biologie die Lehre von der Mole- kular-Struktur des lebendigen Plasma u. s. w.
Theorie und Glaube. Die Erklärung einer größeren Reihe von zusammenhängenden Erscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache nennen wir Theorie. Auch bei der Theorie, wie bei der Hypothese, ist der Glaube (in wissen- schaftlichem Sinne!) unentbehrlich; denn auch hier ergänzt die dichtende Phantasie die Lücke, welche der Verstand in der Er- kenntniß des Zusammenhangs der Dinge offen läßt. Die Theorie kann daher immer nur als eine Annäherung an die Wahrheit betrachtet werden; es muß zugestanden werden, daß sie später durch eine andere, besser begründete Theorie verdrängt werden kann. Trotz dieser eingestandenen Unsicherheit bleibt die Theorie für jede wahre Wissenschaft unentbehrlich; denn sie erklärt erst die Thatsachen durch Annahme von Ursachen. Wer auf die Theorie ganz verzichten und reine Wissenschaft bloß aus "sicheren Thatsachen" aufbauen will (wie es oft von beschränkten Köpfen
Hypotheſe und Glaube. XVI.
Die Vorſtellungen, welche die Lücken des Wiſſens ausfüllen oder an deſſen Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als „Glauben“ bezeichnen. So geſchieht es fortwährend im all- täglichen Leben. Wenn wir irgend eine Thatſache nicht ſicher wiſſen, ſo ſagen wir: Ich glaube ſie. In dieſem Sinne ſind wir auch in der Wiſſenſchaft ſelbſt zum Glauben gezwungen; wir vermuthen oder nehmen an, daß ein beſtimmtes Verhältniß zwiſchen zwei Erſcheinungen beſteht, obwohl wir dasſelbe nicht ſicher kennen. Handelt es ſich dabei um die Erkenntniß von Urſachen, ſo bilden wir uns eine Hypotheſe. Indeſſen dürfen in der Wiſſenſchaft nur ſolche Hypotheſen zugelaſſen werden, die innerhalb des menſchlichen Erkenntniß-Vermögens liegen, und die nicht bekannten Thatſachen widerſprechen. Solche Hypotheſen ſind z. B. in der Phyſik die Lehre von Vibrationen des Aethers, in der Chemie die Annahme der Atome und deren Wahlverwandtſchaft, in der Biologie die Lehre von der Mole- kular-Struktur des lebendigen Plasma u. ſ. w.
Theorie und Glaube. Die Erklärung einer größeren Reihe von zuſammenhängenden Erſcheinungen durch Annahme einer gemeinſamen Urſache nennen wir Theorie. Auch bei der Theorie, wie bei der Hypotheſe, iſt der Glaube (in wiſſen- ſchaftlichem Sinne!) unentbehrlich; denn auch hier ergänzt die dichtende Phantaſie die Lücke, welche der Verſtand in der Er- kenntniß des Zuſammenhangs der Dinge offen läßt. Die Theorie kann daher immer nur als eine Annäherung an die Wahrheit betrachtet werden; es muß zugeſtanden werden, daß ſie ſpäter durch eine andere, beſſer begründete Theorie verdrängt werden kann. Trotz dieſer eingeſtandenen Unſicherheit bleibt die Theorie für jede wahre Wiſſenſchaft unentbehrlich; denn ſie erklärt erſt die Thatſachen durch Annahme von Urſachen. Wer auf die Theorie ganz verzichten und reine Wiſſenſchaft bloß aus „ſicheren Thatſachen“ aufbauen will (wie es oft von beſchränkten Köpfen
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Hypotheſe und Glaube. XVI.
Die Vorſtellungen, welche die Lücken des Wiſſens ausfüllen
oder an deſſen Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als
„Glauben“ bezeichnen. So geſchieht es fortwährend im all-
täglichen Leben. Wenn wir irgend eine Thatſache nicht ſicher
wiſſen, ſo ſagen wir: Ich glaube ſie. In dieſem Sinne ſind
wir auch in der Wiſſenſchaft ſelbſt zum Glauben gezwungen;
wir vermuthen oder nehmen an, daß ein beſtimmtes Verhältniß
zwiſchen zwei Erſcheinungen beſteht, obwohl wir dasſelbe nicht
ſicher kennen. Handelt es ſich dabei um die Erkenntniß von
Urſachen, ſo bilden wir uns eine Hypotheſe. Indeſſen
dürfen in der Wiſſenſchaft nur ſolche Hypotheſen zugelaſſen
werden, die innerhalb des menſchlichen Erkenntniß-Vermögens
liegen, und die nicht bekannten Thatſachen widerſprechen. Solche
Hypotheſen ſind z. B. in der Phyſik die Lehre von Vibrationen
des Aethers, in der Chemie die Annahme der Atome und deren
Wahlverwandtſchaft, in der Biologie die Lehre von der Mole-
kular-Struktur des lebendigen Plasma u. ſ. w.
Theorie und Glaube. Die Erklärung einer größeren
Reihe von zuſammenhängenden Erſcheinungen durch Annahme
einer gemeinſamen Urſache nennen wir Theorie. Auch bei der
Theorie, wie bei der Hypotheſe, iſt der Glaube (in wiſſen-
ſchaftlichem Sinne!) unentbehrlich; denn auch hier ergänzt die
dichtende Phantaſie die Lücke, welche der Verſtand in der Er-
kenntniß des Zuſammenhangs der Dinge offen läßt. Die Theorie
kann daher immer nur als eine Annäherung an die Wahrheit
betrachtet werden; es muß zugeſtanden werden, daß ſie ſpäter
durch eine andere, beſſer begründete Theorie verdrängt werden
kann. Trotz dieſer eingeſtandenen Unſicherheit bleibt die Theorie
für jede wahre Wiſſenſchaft unentbehrlich; denn ſie erklärt erſt
die Thatſachen durch Annahme von Urſachen. Wer auf die
Theorie ganz verzichten und reine Wiſſenſchaft bloß aus „ſicheren
Thatſachen“ aufbauen will (wie es oft von beſchränkten Köpfen
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/362>, abgerufen am 27.11.2024.
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