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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Aberglaube der Naturvölker. XVI.
im engeren Sinne (!) bezeichnet werden. Da aber diese beiden
Glaubens-Formen, der "natürliche Glaube" der Wissenschaft und
der "übernatürliche Glaube" der Religion, nicht selten verwechselt
werden und so Verwirrung entsteht, ist es zweckmäßig, ja noth-
wendig, ihren principiellen Gegensatz scharf zu betonen.
Der "religiöse" Glaube ist stets Wunderglaube und steht
als solcher mit dem natürlichen Glauben der Vernunft in un-
versöhnlichem Widerspruch. Im Gegensatz zu letzterem behauptet
er übernatürliche Vorgänge und kann somit als "Ueberglaube"
oder "Oberglaube" bezeichnet werden, die ursprüngliche Form
des Wortes Aberglaube. Der wesentliche Unterschied dieses
Aberglaubens von dem "vernünftigen Glauben" besteht eben
darin, daß er übernatürliche Kräfte und Erscheinungen annimmt,
welche die Wissenschaft nicht kennt und nicht zuläßt, welche durch
irrthümliche Wahrnehmungen und falsche Phantasie-Dichtungen
erzeugt sind; der Aberglaube widerspricht mithin den klar er-
kannten Naturgesetzen und ist als solcher unvernünftig.

Aberglaube der Naturvölker. Durch die großen Fort-
schritte der Ethnologie in unserem 19. Jahrhundert ist uns eine
erstaunliche Fülle von mannigfaltigen Formen und Erzeugnissen
des Aberglaubens bekannt geworden, wie sie noch heute unter
den rohen Naturvölkern existiren. Vergleicht man dieselben unter
einander und mit den entsprechenden mythologischen Vorstellungen
früherer Zeiten, so ergiebt sich eine vielfache Analogie, oft ein
gemeinsamer Ursprung und zuletzt schließlich eine einfache Urquelle
für alle. Diese finden wir in dem natürlichen Kausalitäts-
Bedürfnisse der Vernunft
, in dem Suchen noch Er-
klärung unbekannter Erscheinungen durch Auffinden ihrer Ursachen.
Besonders gilt das von solchen Bewegungs-Erscheinungen, die
Gefahr drohen und Furcht erregen, wie Blitz und Donner, Erd-
beben, Mondfinsterniß u. s. w. Das Bedürfniß nach kausaler
Erklärung solcher Natur-Erscheinungen besteht schon bei den

Aberglaube der Naturvölker. XVI.
im engeren Sinne (!) bezeichnet werden. Da aber dieſe beiden
Glaubens-Formen, der „natürliche Glaube“ der Wiſſenſchaft und
der „übernatürliche Glaube“ der Religion, nicht ſelten verwechſelt
werden und ſo Verwirrung entſteht, iſt es zweckmäßig, ja noth-
wendig, ihren principiellen Gegenſatz ſcharf zu betonen.
Der „religiöſe“ Glaube iſt ſtets Wunderglaube und ſteht
als ſolcher mit dem natürlichen Glauben der Vernunft in un-
verſöhnlichem Widerſpruch. Im Gegenſatz zu letzterem behauptet
er übernatürliche Vorgänge und kann ſomit als „Ueberglaube
oder „Oberglaube“ bezeichnet werden, die urſprüngliche Form
des Wortes Aberglaube. Der weſentliche Unterſchied dieſes
Aberglaubens von dem „vernünftigen Glauben“ beſteht eben
darin, daß er übernatürliche Kräfte und Erſcheinungen annimmt,
welche die Wiſſenſchaft nicht kennt und nicht zuläßt, welche durch
irrthümliche Wahrnehmungen und falſche Phantaſie-Dichtungen
erzeugt ſind; der Aberglaube widerſpricht mithin den klar er-
kannten Naturgeſetzen und iſt als ſolcher unvernünftig.

Aberglaube der Naturvölker. Durch die großen Fort-
ſchritte der Ethnologie in unſerem 19. Jahrhundert iſt uns eine
erſtaunliche Fülle von mannigfaltigen Formen und Erzeugniſſen
des Aberglaubens bekannt geworden, wie ſie noch heute unter
den rohen Naturvölkern exiſtiren. Vergleicht man dieſelben unter
einander und mit den entſprechenden mythologiſchen Vorſtellungen
früherer Zeiten, ſo ergiebt ſich eine vielfache Analogie, oft ein
gemeinſamer Urſprung und zuletzt ſchließlich eine einfache Urquelle
für alle. Dieſe finden wir in dem natürlichen Kauſalitäts-
Bedürfniſſe der Vernunft
, in dem Suchen noch Er-
klärung unbekannter Erſcheinungen durch Auffinden ihrer Urſachen.
Beſonders gilt das von ſolchen Bewegungs-Erſcheinungen, die
Gefahr drohen und Furcht erregen, wie Blitz und Donner, Erd-
beben, Mondfinſterniß u. ſ. w. Das Bedürfniß nach kauſaler
Erklärung ſolcher Natur-Erſcheinungen beſteht ſchon bei den

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[348/0364] Aberglaube der Naturvölker. XVI. im engeren Sinne (!) bezeichnet werden. Da aber dieſe beiden Glaubens-Formen, der „natürliche Glaube“ der Wiſſenſchaft und der „übernatürliche Glaube“ der Religion, nicht ſelten verwechſelt werden und ſo Verwirrung entſteht, iſt es zweckmäßig, ja noth- wendig, ihren principiellen Gegenſatz ſcharf zu betonen. Der „religiöſe“ Glaube iſt ſtets Wunderglaube und ſteht als ſolcher mit dem natürlichen Glauben der Vernunft in un- verſöhnlichem Widerſpruch. Im Gegenſatz zu letzterem behauptet er übernatürliche Vorgänge und kann ſomit als „Ueberglaube“ oder „Oberglaube“ bezeichnet werden, die urſprüngliche Form des Wortes Aberglaube. Der weſentliche Unterſchied dieſes Aberglaubens von dem „vernünftigen Glauben“ beſteht eben darin, daß er übernatürliche Kräfte und Erſcheinungen annimmt, welche die Wiſſenſchaft nicht kennt und nicht zuläßt, welche durch irrthümliche Wahrnehmungen und falſche Phantaſie-Dichtungen erzeugt ſind; der Aberglaube widerſpricht mithin den klar er- kannten Naturgeſetzen und iſt als ſolcher unvernünftig. Aberglaube der Naturvölker. Durch die großen Fort- ſchritte der Ethnologie in unſerem 19. Jahrhundert iſt uns eine erſtaunliche Fülle von mannigfaltigen Formen und Erzeugniſſen des Aberglaubens bekannt geworden, wie ſie noch heute unter den rohen Naturvölkern exiſtiren. Vergleicht man dieſelben unter einander und mit den entſprechenden mythologiſchen Vorſtellungen früherer Zeiten, ſo ergiebt ſich eine vielfache Analogie, oft ein gemeinſamer Urſprung und zuletzt ſchließlich eine einfache Urquelle für alle. Dieſe finden wir in dem natürlichen Kauſalitäts- Bedürfniſſe der Vernunft, in dem Suchen noch Er- klärung unbekannter Erſcheinungen durch Auffinden ihrer Urſachen. Beſonders gilt das von ſolchen Bewegungs-Erſcheinungen, die Gefahr drohen und Furcht erregen, wie Blitz und Donner, Erd- beben, Mondfinſterniß u. ſ. w. Das Bedürfniß nach kauſaler Erklärung ſolcher Natur-Erſcheinungen beſteht ſchon bei den

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/364>, abgerufen am 27.11.2024.