Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.
Täuschungen der Offenbarung. XVI. Inspirationen bilden die Grundlage zahlreicher Mythen undLegenden, deren anthropistischer Ursprung auf der Hand liegt. Zwar erscheint der Gott, der "sich offenbart", oft nicht direkt in menschlicher Gestalt, sondern im Donner und Blitz, im Sturm und Erdbeben, im feurigen Busch oder der drohenden Wolke. Aber die Offenbarung selbst, welche er dem gläubigen Menschen- kinde giebt, wird in allen Fällen anthropistisch gedacht, als Mit- theilung von Vorstellungen oder Befehlen, welche genau so for- mulirt und ausgesprochen werden, wie es normaler Weise nur durch die Großhirnrinde und durch den Kehlkopf des Menschen geschieht. In den indischen und egyptischen Religionen, in der hellenischen und römischen Mythologie, im Talmud wie im Koran, im Alten wie im Neuen Testament -- denken, sprechen und handeln die Götter ganz wie die Menschen, und die Offen- barungen, in denen sie uns die Geheimnisse des Daseins enthüllen, die dunkeln Welträthsel lösen wollen, sind Dichtungen der menschlichen Phantasie. Die Wahrheit, welche der Gläubige darin findet, ist menschliche Erfindung, und der "kindliche Glaube" an diese unvernünftigen Offenbarungen ist Aberglaube. Die wahre Offenbarung, d. h. die wahre Quelle ver- Täuſchungen der Offenbarung. XVI. Inſpirationen bilden die Grundlage zahlreicher Mythen undLegenden, deren anthropiſtiſcher Urſprung auf der Hand liegt. Zwar erſcheint der Gott, der „ſich offenbart“, oft nicht direkt in menſchlicher Geſtalt, ſondern im Donner und Blitz, im Sturm und Erdbeben, im feurigen Buſch oder der drohenden Wolke. Aber die Offenbarung ſelbſt, welche er dem gläubigen Menſchen- kinde giebt, wird in allen Fällen anthropiſtiſch gedacht, als Mit- theilung von Vorſtellungen oder Befehlen, welche genau ſo for- mulirt und ausgeſprochen werden, wie es normaler Weiſe nur durch die Großhirnrinde und durch den Kehlkopf des Menſchen geſchieht. In den indiſchen und egyptiſchen Religionen, in der helleniſchen und römiſchen Mythologie, im Talmud wie im Koran, im Alten wie im Neuen Teſtament — denken, ſprechen und handeln die Götter ganz wie die Menſchen, und die Offen- barungen, in denen ſie uns die Geheimniſſe des Daſeins enthüllen, die dunkeln Welträthſel löſen wollen, ſind Dichtungen der menſchlichen Phantaſie. Die Wahrheit, welche der Gläubige darin findet, iſt menſchliche Erfindung, und der „kindliche Glaube“ an dieſe unvernünftigen Offenbarungen iſt Aberglaube. Die wahre Offenbarung, d. h. die wahre Quelle ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0370" n="354"/><fw place="top" type="header">Täuſchungen der Offenbarung. <hi rendition="#aq">XVI.</hi></fw><lb/> Inſpirationen bilden die Grundlage zahlreicher Mythen und<lb/> Legenden, deren anthropiſtiſcher Urſprung auf der Hand liegt.<lb/> Zwar erſcheint der Gott, der „ſich offenbart“, oft nicht direkt in<lb/> menſchlicher Geſtalt, ſondern im Donner und Blitz, im Sturm<lb/> und Erdbeben, im feurigen Buſch oder der drohenden Wolke.<lb/> Aber die Offenbarung ſelbſt, welche er dem gläubigen Menſchen-<lb/> kinde giebt, wird in allen Fällen anthropiſtiſch gedacht, als Mit-<lb/> theilung von Vorſtellungen oder Befehlen, welche genau ſo for-<lb/> mulirt und ausgeſprochen werden, wie es normaler Weiſe nur<lb/> durch die Großhirnrinde und durch den Kehlkopf des Menſchen<lb/> geſchieht. In den indiſchen und egyptiſchen Religionen, in der<lb/> helleniſchen und römiſchen Mythologie, im Talmud wie im<lb/> Koran, im Alten wie im Neuen Teſtament — denken, ſprechen<lb/> und handeln die Götter ganz wie die Menſchen, und die Offen-<lb/> barungen, in denen ſie uns die Geheimniſſe des Daſeins enthüllen,<lb/> die dunkeln Welträthſel löſen wollen, ſind <hi rendition="#g">Dichtungen</hi> der<lb/> menſchlichen Phantaſie. Die <hi rendition="#g">Wahrheit,</hi> welche der Gläubige<lb/> darin findet, iſt menſchliche Erfindung, und der „kindliche Glaube“<lb/> an dieſe unvernünftigen Offenbarungen iſt Aberglaube.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#g">wahre Offenbarung,</hi> d. h. die wahre Quelle ver-<lb/> nünftiger Erkenntniß, iſt nur in der <hi rendition="#g">Natur</hi> zu finden. Der<lb/> reiche Schatz wahren Wiſſens, der den werthvollſten Theil der<lb/> menſchlichen Kultur darſtellt, iſt einzig und allein den Erfahrungen<lb/> entſprungen, welche der forſchende Verſtand durch <hi rendition="#g">Natur-<lb/> Erkenntniß</hi> gewonnen hat, und den <hi rendition="#g">Vernunft-</hi>Schlüſſen,<lb/> welche er durch richtige Aſſocion dieſer empiriſchen Vorſtellungen<lb/> gebildet hat. Jeder vernünftige Menſch mit normalem Gehirn<lb/> und normalen Sinnen ſchöpft bei unbefangener Betrachtung aus<lb/> der Natur dieſe wahre Offenbarung und befreit ſich damit von<lb/> dem Aberglauben, welchen ihm die Offenbarungen der Religion<lb/> aufgebürdet haben.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </body> </text> </TEI> [354/0370]
Täuſchungen der Offenbarung. XVI.
Inſpirationen bilden die Grundlage zahlreicher Mythen und
Legenden, deren anthropiſtiſcher Urſprung auf der Hand liegt.
Zwar erſcheint der Gott, der „ſich offenbart“, oft nicht direkt in
menſchlicher Geſtalt, ſondern im Donner und Blitz, im Sturm
und Erdbeben, im feurigen Buſch oder der drohenden Wolke.
Aber die Offenbarung ſelbſt, welche er dem gläubigen Menſchen-
kinde giebt, wird in allen Fällen anthropiſtiſch gedacht, als Mit-
theilung von Vorſtellungen oder Befehlen, welche genau ſo for-
mulirt und ausgeſprochen werden, wie es normaler Weiſe nur
durch die Großhirnrinde und durch den Kehlkopf des Menſchen
geſchieht. In den indiſchen und egyptiſchen Religionen, in der
helleniſchen und römiſchen Mythologie, im Talmud wie im
Koran, im Alten wie im Neuen Teſtament — denken, ſprechen
und handeln die Götter ganz wie die Menſchen, und die Offen-
barungen, in denen ſie uns die Geheimniſſe des Daſeins enthüllen,
die dunkeln Welträthſel löſen wollen, ſind Dichtungen der
menſchlichen Phantaſie. Die Wahrheit, welche der Gläubige
darin findet, iſt menſchliche Erfindung, und der „kindliche Glaube“
an dieſe unvernünftigen Offenbarungen iſt Aberglaube.
Die wahre Offenbarung, d. h. die wahre Quelle ver-
nünftiger Erkenntniß, iſt nur in der Natur zu finden. Der
reiche Schatz wahren Wiſſens, der den werthvollſten Theil der
menſchlichen Kultur darſtellt, iſt einzig und allein den Erfahrungen
entſprungen, welche der forſchende Verſtand durch Natur-
Erkenntniß gewonnen hat, und den Vernunft-Schlüſſen,
welche er durch richtige Aſſocion dieſer empiriſchen Vorſtellungen
gebildet hat. Jeder vernünftige Menſch mit normalem Gehirn
und normalen Sinnen ſchöpft bei unbefangener Betrachtung aus
der Natur dieſe wahre Offenbarung und befreit ſich damit von
dem Aberglauben, welchen ihm die Offenbarungen der Religion
aufgebürdet haben.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/370 |
| Zitationshilfe: | Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/370>, abgerufen am 28.11.2024. |
