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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XVII. Verkündigung der Jungfrau Maria.
"Joseph aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in
Schande bringen, gedachte aber sie heimlich zu verlassen"; er
wurde erst beschwichtigt, als ihm der "Engel des Herrn" mit-
theilte: "Was in ihr geboren ist, das ist von dem heiligen Geist."
Ausführlicher erzählt Lukas (Kap. 1, Vers 26-38) die "Ver-
kündigung Mariä" durch den Erzengel Gabriel mit den Worten:
"Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des
höchsten wird dich überschatten" -- worauf Maria antwortet:
"Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt
hast." Bekanntlich ist dieser Besuch des Engels Gabriel und
seine Verkündigung von vielen berühmten Malern zum Vorwurf
interessanter Gemälde gewählt worden. Svoboda sagt dar-
über: "Der Erzengel spricht da mit einer Aufrichtigkeit, welche
die Malerei zum Glück nicht wiederholen konnte. Es zeigt sich
auch in diesem Falle die Veredelung eines prosaischen Bibel-
stoffes durch die bildende Kunst. Allerdings gab es auch Maler,
welche für die embryologischen Betrachtungen des Erzengels
Gabriel in ihren Darstellungen volles Verständniß bekundeten."

Wie schon vorher angeführt wurde, sind die vier kanonischen
Evangelien, welche von der christlichen Kirche allein als die
echten anerkannt und als die Grundlagen des Glaubens hoch-
gehalten werden, willkürlich ausgewählt aus einer viel größeren
Zahl von Evangelien, deren thatsächliche Angaben sich oft unter
sich nicht weniger widersprechen als die Sagen der ersteren.
Die Kirchenväter selbst zählen nicht weniger als 40-50 solcher
unechter oder apokrypher Evangelien auf; einige davon sind
sowohl in griechischer als in lateinischer Sprache vorhanden, so
z. B. das Evangelium des Jakobus, des Thomas, des Nikodemus u. A.
Die Angaben, welche diese aprokryphen Evangelien über das
Leben Jesu machen, besonders über seine Geburt und Kindheit,
können ebenso gut (oder vielmehr größtentheils ebenso wenig!)
Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit erheben als die vier

XVII. Verkündigung der Jungfrau Maria.
„Joſeph aber, ihr Mann, war fromm und wollte ſie nicht in
Schande bringen, gedachte aber ſie heimlich zu verlaſſen“; er
wurde erſt beſchwichtigt, als ihm der „Engel des Herrn“ mit-
theilte: „Was in ihr geboren iſt, das iſt von dem heiligen Geiſt.“
Ausführlicher erzählt Lukas (Kap. 1, Vers 26-38) die „Ver-
kündigung Mariä“ durch den Erzengel Gabriel mit den Worten:
„Der heilige Geiſt wird über dich kommen, und die Kraft des
höchſten wird dich überſchatten“ — worauf Maria antwortet:
„Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geſchehe, wie du geſagt
haſt.“ Bekanntlich iſt dieſer Beſuch des Engels Gabriel und
ſeine Verkündigung von vielen berühmten Malern zum Vorwurf
intereſſanter Gemälde gewählt worden. Svoboda ſagt dar-
über: „Der Erzengel ſpricht da mit einer Aufrichtigkeit, welche
die Malerei zum Glück nicht wiederholen konnte. Es zeigt ſich
auch in dieſem Falle die Veredelung eines proſaiſchen Bibel-
ſtoffes durch die bildende Kunſt. Allerdings gab es auch Maler,
welche für die embryologiſchen Betrachtungen des Erzengels
Gabriel in ihren Darſtellungen volles Verſtändniß bekundeten.“

Wie ſchon vorher angeführt wurde, ſind die vier kanoniſchen
Evangelien, welche von der chriſtlichen Kirche allein als die
echten anerkannt und als die Grundlagen des Glaubens hoch-
gehalten werden, willkürlich ausgewählt aus einer viel größeren
Zahl von Evangelien, deren thatſächliche Angaben ſich oft unter
ſich nicht weniger widerſprechen als die Sagen der erſteren.
Die Kirchenväter ſelbſt zählen nicht weniger als 40-50 ſolcher
unechter oder apokrypher Evangelien auf; einige davon ſind
ſowohl in griechiſcher als in lateiniſcher Sprache vorhanden, ſo
z. B. das Evangelium des Jakobus, des Thomas, des Nikodemus u. A.
Die Angaben, welche dieſe aprokryphen Evangelien über das
Leben Jeſu machen, beſonders über ſeine Geburt und Kindheit,
können ebenſo gut (oder vielmehr größtentheils ebenſo wenig!)
Anſpruch auf hiſtoriſche Glaubwürdigkeit erheben als die vier

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[377/0393] XVII. Verkündigung der Jungfrau Maria. „Joſeph aber, ihr Mann, war fromm und wollte ſie nicht in Schande bringen, gedachte aber ſie heimlich zu verlaſſen“; er wurde erſt beſchwichtigt, als ihm der „Engel des Herrn“ mit- theilte: „Was in ihr geboren iſt, das iſt von dem heiligen Geiſt.“ Ausführlicher erzählt Lukas (Kap. 1, Vers 26-38) die „Ver- kündigung Mariä“ durch den Erzengel Gabriel mit den Worten: „Der heilige Geiſt wird über dich kommen, und die Kraft des höchſten wird dich überſchatten“ — worauf Maria antwortet: „Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geſchehe, wie du geſagt haſt.“ Bekanntlich iſt dieſer Beſuch des Engels Gabriel und ſeine Verkündigung von vielen berühmten Malern zum Vorwurf intereſſanter Gemälde gewählt worden. Svoboda ſagt dar- über: „Der Erzengel ſpricht da mit einer Aufrichtigkeit, welche die Malerei zum Glück nicht wiederholen konnte. Es zeigt ſich auch in dieſem Falle die Veredelung eines proſaiſchen Bibel- ſtoffes durch die bildende Kunſt. Allerdings gab es auch Maler, welche für die embryologiſchen Betrachtungen des Erzengels Gabriel in ihren Darſtellungen volles Verſtändniß bekundeten.“ Wie ſchon vorher angeführt wurde, ſind die vier kanoniſchen Evangelien, welche von der chriſtlichen Kirche allein als die echten anerkannt und als die Grundlagen des Glaubens hoch- gehalten werden, willkürlich ausgewählt aus einer viel größeren Zahl von Evangelien, deren thatſächliche Angaben ſich oft unter ſich nicht weniger widerſprechen als die Sagen der erſteren. Die Kirchenväter ſelbſt zählen nicht weniger als 40-50 ſolcher unechter oder apokrypher Evangelien auf; einige davon ſind ſowohl in griechiſcher als in lateiniſcher Sprache vorhanden, ſo z. B. das Evangelium des Jakobus, des Thomas, des Nikodemus u. A. Die Angaben, welche dieſe aprokryphen Evangelien über das Leben Jeſu machen, beſonders über ſeine Geburt und Kindheit, können ebenſo gut (oder vielmehr größtentheils ebenſo wenig!) Anſpruch auf hiſtoriſche Glaubwürdigkeit erheben als die vier

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/393>, abgerufen am 28.11.2024.