Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.Uneheliche Geburt Christi. XVII. ehrliche Deutsche und der prüde Brite blind an die unmöglicheSage von der Erzeugung durch den "Heiligen Geist". Wie bekannt, entspricht diese strenge, sorgfältig zur Schau getragene Prüderie der feineren Gesellschaft (besonders in England!) keines- wegs dem wahren Zustande der sexuellen Sittlichkeit in dem dortigen "High life". Die Enthüllungen, z. B., welche darüber vor einem Dutzend Jahren die "Pall Mall Gazette" brachte, erinnerten sehr an die Zustände von Babylon. Die romanischen Rassen, welche diese Prüderie verlachen Es erschien mir nothwendig, diese wichtigen Fragen der Uneheliche Geburt Chriſti. XVII. ehrliche Deutſche und der prüde Brite blind an die unmöglicheSage von der Erzeugung durch den „Heiligen Geiſt“. Wie bekannt, entſpricht dieſe ſtrenge, ſorgfältig zur Schau getragene Prüderie der feineren Geſellſchaft (beſonders in England!) keines- wegs dem wahren Zuſtande der ſexuellen Sittlichkeit in dem dortigen „High life“. Die Enthüllungen, z. B., welche darüber vor einem Dutzend Jahren die „Pall Mall Gazette“ brachte, erinnerten ſehr an die Zuſtände von Babylon. Die romaniſchen Raſſen, welche dieſe Prüderie verlachen Es erſchien mir nothwendig, dieſe wichtigen Fragen der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0396" n="380"/><fw place="top" type="header">Uneheliche Geburt Chriſti. <hi rendition="#aq">XVII.</hi></fw><lb/> ehrliche Deutſche und der prüde Brite blind an die unmögliche<lb/> Sage von der Erzeugung durch den „Heiligen Geiſt“. Wie<lb/> bekannt, entſpricht dieſe ſtrenge, ſorgfältig zur Schau getragene<lb/> Prüderie der feineren Geſellſchaft (beſonders in England!) keines-<lb/> wegs dem wahren Zuſtande der ſexuellen Sittlichkeit in dem<lb/> dortigen <hi rendition="#aq">„High life“</hi>. Die Enthüllungen, z. B., welche darüber<lb/> vor einem Dutzend Jahren die „Pall Mall Gazette“ brachte,<lb/> erinnerten ſehr an die Zuſtände von <hi rendition="#g">Babylon</hi>.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#g">romaniſchen</hi> Raſſen, welche dieſe Prüderie verlachen<lb/> und die ſexuellen Verhältniſſe leichtfertiger beurtheilen, finden<lb/> jenen „<hi rendition="#g">Roman der Maria</hi>“ recht anziehend, und der beſondere<lb/> Kultus, deſſen gerade in Frankreich und Italien „Unſere liebe<lb/> Frau“ ſich erfreut, iſt oft in merkwürdiger Naivetät mit jener<lb/> Liebesgeſchichte verknüpft. So findet z. B. <hi rendition="#g">Paul de Regla</hi><lb/> (<hi rendition="#aq">Dr.</hi> <hi rendition="#g">Desjardin</hi>), welcher (1894) „Jeſus von Nazareth vom<lb/> wiſſenſchaftlichen, geſchichtlichen und geſellſchaftlichen Standpunkt<lb/> aus dargeſtellt“ hat, gerade in der <hi rendition="#g">unehelichen Geburt<lb/> Chriſti</hi> ein beſonderes „Anrecht auf den <hi rendition="#g">Heiligenſchein</hi>,<lb/> der ſeine herrliche Geſtalt umſtrahlt“!</p><lb/> <p>Es erſchien mir nothwendig, dieſe wichtigen Fragen der<lb/> Chriſtus-Forſchung hier offen im Sinne der <hi rendition="#g">objectiven<lb/> Geſchichts-Wiſſenſchaft</hi> zu beleuchten, weil die ſtreitende<lb/> Kirche ſelbſt darauf das größte Gewicht legt, und weil ſie den<lb/> darauf gegründeten Wunderglauben als ſtärkſte Waffe gegen die<lb/> moderne Weltanſchauung verwendet. Der hohe ethiſche Werth<lb/> des urſprünglichen reinen Chriſtenthums, der veredelnde Einfluß<lb/> dieſer „Religion der Liebe“ auf die Kulturgeſchichte, iſt unab-<lb/> hängig von jenen mythologiſchen Dogmen; die angeblichen<lb/> „<hi rendition="#g">Offenbarungen</hi>“, auf welche ſich dieſe Mythen ſtützen, ſind<lb/> unvereinbar mit den ſicherſten Ergebniſſen unſerer modernen<lb/><hi rendition="#g">Naturerkenntniß</hi>.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </body> </text> </TEI> [380/0396]
Uneheliche Geburt Chriſti. XVII.
ehrliche Deutſche und der prüde Brite blind an die unmögliche
Sage von der Erzeugung durch den „Heiligen Geiſt“. Wie
bekannt, entſpricht dieſe ſtrenge, ſorgfältig zur Schau getragene
Prüderie der feineren Geſellſchaft (beſonders in England!) keines-
wegs dem wahren Zuſtande der ſexuellen Sittlichkeit in dem
dortigen „High life“. Die Enthüllungen, z. B., welche darüber
vor einem Dutzend Jahren die „Pall Mall Gazette“ brachte,
erinnerten ſehr an die Zuſtände von Babylon.
Die romaniſchen Raſſen, welche dieſe Prüderie verlachen
und die ſexuellen Verhältniſſe leichtfertiger beurtheilen, finden
jenen „Roman der Maria“ recht anziehend, und der beſondere
Kultus, deſſen gerade in Frankreich und Italien „Unſere liebe
Frau“ ſich erfreut, iſt oft in merkwürdiger Naivetät mit jener
Liebesgeſchichte verknüpft. So findet z. B. Paul de Regla
(Dr. Desjardin), welcher (1894) „Jeſus von Nazareth vom
wiſſenſchaftlichen, geſchichtlichen und geſellſchaftlichen Standpunkt
aus dargeſtellt“ hat, gerade in der unehelichen Geburt
Chriſti ein beſonderes „Anrecht auf den Heiligenſchein,
der ſeine herrliche Geſtalt umſtrahlt“!
Es erſchien mir nothwendig, dieſe wichtigen Fragen der
Chriſtus-Forſchung hier offen im Sinne der objectiven
Geſchichts-Wiſſenſchaft zu beleuchten, weil die ſtreitende
Kirche ſelbſt darauf das größte Gewicht legt, und weil ſie den
darauf gegründeten Wunderglauben als ſtärkſte Waffe gegen die
moderne Weltanſchauung verwendet. Der hohe ethiſche Werth
des urſprünglichen reinen Chriſtenthums, der veredelnde Einfluß
dieſer „Religion der Liebe“ auf die Kulturgeſchichte, iſt unab-
hängig von jenen mythologiſchen Dogmen; die angeblichen
„Offenbarungen“, auf welche ſich dieſe Mythen ſtützen, ſind
unvereinbar mit den ſicherſten Ergebniſſen unſerer modernen
Naturerkenntniß.
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