lenkten, wendeten sie dasselbe von der Natur ab und von der Erkenntniß der hier verborgenen Schätze, die zu selbständiger Wissenschaft geführt hätten. Außerdem aber erinnerte der tägliche Anblick der überall massenhaft ausgestellten Heiligen- bilder, der Darstellungen aus der "heiligen Geschichte", den gläubigen Christen jederzeit an den reichen Sagenschatz, den die Phantasie der Kirche angesammelt hatte. Die Legenden derselben wurden für wahre Erzählungen, die Wundergeschichten für wirk- liche Ereignisse ausgegeben und geglaubt. Unzweifelhaft hat in dieser Beziehung die christliche Kunst einen ungeheuren Einfluß auf die allgemeine Bildung und ganz besonders auf die Festigung des Glaubens geübt, einen Einfluß, der sich in der ganzen Kulturwelt bis auf den heutigen Tag geltend macht.
Monistische Kunst. Das diametrale Gegenstück dieser herrschenden christlichen Kunst ist diejenige neue Form der bil- denden Kunst, die sich erst in unserem Jahrhundert, im Zu- sammenhang mit der Naturwissenschaft entwickelt hat. Die überraschende Erweiterung unserer Weltkenntniß, die Entdeckung von unzähligen schönen Lebens-Formen, die wir der letzteren verdanken, hat in unserer Zeit einen ganz anderen ästhetischen Sinn geweckt und damit auch der bildenden Kunst eine neue Richtung gegeben. Zahlreiche wissenschaftliche Reisen und große Expeditionen zur Erforschung unbekannter Länder und Meere förderten schon im vorigen, noch viel mehr aber in unserem Jahrhundert eine ungeahnte Fülle von unbekannten organischen Formen zu Tage. Die Zahl der neuen Thier- und Pflanzen- Arten wuchs bald in's Unermeßliche, und unter diesen (besonders unter den früher vernachlässigten niederen Gruppen) fanden sich Tausende schöner und interessanter Gestalten, ganz neue Motive für Malerei und Bildhauerei, für Architektur und Kunstgewerbe. Eine neue Welt erschloß in dieser Beziehung besonders die aus- gedehntere mikroskopische Forschung in der zweiten Hälfte
XVIII. Moniſtiſche Kunſt.
lenkten, wendeten ſie dasſelbe von der Natur ab und von der Erkenntniß der hier verborgenen Schätze, die zu ſelbſtändiger Wiſſenſchaft geführt hätten. Außerdem aber erinnerte der tägliche Anblick der überall maſſenhaft ausgeſtellten Heiligen- bilder, der Darſtellungen aus der „heiligen Geſchichte“, den gläubigen Chriſten jederzeit an den reichen Sagenſchatz, den die Phantaſie der Kirche angeſammelt hatte. Die Legenden derſelben wurden für wahre Erzählungen, die Wundergeſchichten für wirk- liche Ereigniſſe ausgegeben und geglaubt. Unzweifelhaft hat in dieſer Beziehung die chriſtliche Kunſt einen ungeheuren Einfluß auf die allgemeine Bildung und ganz beſonders auf die Feſtigung des Glaubens geübt, einen Einfluß, der ſich in der ganzen Kulturwelt bis auf den heutigen Tag geltend macht.
Moniſtiſche Kunſt. Das diametrale Gegenſtück dieſer herrſchenden chriſtlichen Kunſt iſt diejenige neue Form der bil- denden Kunſt, die ſich erſt in unſerem Jahrhundert, im Zu- ſammenhang mit der Naturwiſſenſchaft entwickelt hat. Die überraſchende Erweiterung unſerer Weltkenntniß, die Entdeckung von unzähligen ſchönen Lebens-Formen, die wir der letzteren verdanken, hat in unſerer Zeit einen ganz anderen äſthetiſchen Sinn geweckt und damit auch der bildenden Kunſt eine neue Richtung gegeben. Zahlreiche wiſſenſchaftliche Reiſen und große Expeditionen zur Erforſchung unbekannter Länder und Meere förderten ſchon im vorigen, noch viel mehr aber in unſerem Jahrhundert eine ungeahnte Fülle von unbekannten organiſchen Formen zu Tage. Die Zahl der neuen Thier- und Pflanzen- Arten wuchs bald in's Unermeßliche, und unter dieſen (beſonders unter den früher vernachläſſigten niederen Gruppen) fanden ſich Tauſende ſchöner und intereſſanter Geſtalten, ganz neue Motive für Malerei und Bildhauerei, für Architektur und Kunſtgewerbe. Eine neue Welt erſchloß in dieſer Beziehung beſonders die aus- gedehntere mikroſkopiſche Forſchung in der zweiten Hälfte
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XVIII. Moniſtiſche Kunſt.
lenkten, wendeten ſie dasſelbe von der Natur ab und von der
Erkenntniß der hier verborgenen Schätze, die zu ſelbſtändiger
Wiſſenſchaft geführt hätten. Außerdem aber erinnerte der
tägliche Anblick der überall maſſenhaft ausgeſtellten Heiligen-
bilder, der Darſtellungen aus der „heiligen Geſchichte“, den
gläubigen Chriſten jederzeit an den reichen Sagenſchatz, den die
Phantaſie der Kirche angeſammelt hatte. Die Legenden derſelben
wurden für wahre Erzählungen, die Wundergeſchichten für wirk-
liche Ereigniſſe ausgegeben und geglaubt. Unzweifelhaft hat in
dieſer Beziehung die chriſtliche Kunſt einen ungeheuren Einfluß
auf die allgemeine Bildung und ganz beſonders auf die Feſtigung
des Glaubens geübt, einen Einfluß, der ſich in der ganzen
Kulturwelt bis auf den heutigen Tag geltend macht.
Moniſtiſche Kunſt. Das diametrale Gegenſtück dieſer
herrſchenden chriſtlichen Kunſt iſt diejenige neue Form der bil-
denden Kunſt, die ſich erſt in unſerem Jahrhundert, im Zu-
ſammenhang mit der Naturwiſſenſchaft entwickelt hat. Die
überraſchende Erweiterung unſerer Weltkenntniß, die Entdeckung
von unzähligen ſchönen Lebens-Formen, die wir der letzteren
verdanken, hat in unſerer Zeit einen ganz anderen äſthetiſchen
Sinn geweckt und damit auch der bildenden Kunſt eine neue
Richtung gegeben. Zahlreiche wiſſenſchaftliche Reiſen und große
Expeditionen zur Erforſchung unbekannter Länder und Meere
förderten ſchon im vorigen, noch viel mehr aber in unſerem
Jahrhundert eine ungeahnte Fülle von unbekannten organiſchen
Formen zu Tage. Die Zahl der neuen Thier- und Pflanzen-
Arten wuchs bald in's Unermeßliche, und unter dieſen (beſonders
unter den früher vernachläſſigten niederen Gruppen) fanden ſich
Tauſende ſchöner und intereſſanter Geſtalten, ganz neue Motive
für Malerei und Bildhauerei, für Architektur und Kunſtgewerbe.
Eine neue Welt erſchloß in dieſer Beziehung beſonders die aus-
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/409>, abgerufen am 16.07.2024.
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