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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Selbst-Verachtung des Christenthums. XIX.
die Goldene Regel geradezu aufhebt, müssen wir die Ueber-
treibung
der Nächstenliebe auf Kosten der Selbstliebe betrachten.
Das Christenthum bekämpft und verwirft den Egoismus im
Princip, und doch ist dieser Naturtrieb zur Selbsterhaltung absolut
unentbehrlich; ja, man kann sagen, daß auch der Altruismus,
sein scheinbares Gegentheil, im Grunde ein verfeinerter Egoismus
ist. Nichts Großes, nichts Erhabenes ist jemals ohne Egoismus
geschehen und ohne die Leidenschaft, welche uns zu großen
Opfern befähigt. Nur die Ausschreitungen dieser Triebe
sind verwerflich. Zu denjenigen christlichen Geboten, welche uns
in frühester Jugend als wichtigste eingeprägt und welche in
Millionen von Predigten verherrlicht werden, gehört der Satz
(Matthäus 5, 44): "Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen,
thut wohl Denen, die euch hassen, bittet für die, so euch be-
leidigen und verfolgen." Dieses Gebot ist sehr ideal, aber
ebenso naturwidrig als praktisch werthlos. Saladin (a. a. O.
S. 205) sagt zutreffend: "Dies zu thun, wäre unrecht, wenn es
überhaupt möglich wäre; und es wäre überhaupt unmöglich, selbst
wenn es recht wäre." Ebenso verhält es sich mit der Anweisung:
"Wenn dir Jemand den Rock nimmt, dem gieb auch den
Mantel"; d. h. in das moderne Leben übersetzt: "Wenn dich
ein gewissenloser Schuft um die eine Hälfte deines Vermögens
betrügt, dann schenke ihm auch noch die andere Hälfte" -- oder
in die politische Praxis übertragen: "Wenn euch einfältigen
Deutschen die frommen Engländer in Afrika eine eurer neuen
werthvollen Kolonien nach der anderen wegnehmen, dann schenkt
ihnen auch noch eure übrigen Kolonien -- oder am besten: gebt
ihnen Deutschland noch dazu!" Da wir hier gerade die viel-
bewunderte Weltmachts-Politik des modernen England berühren,
wollen wir im Vorbeigehen darauf hinweisen, in welchem
schneidenden Widerspruch dieselbe zu allen Grundlehren
der christlichen Liebe steht, welche von dieser großen Nation

Selbſt-Verachtung des Chriſtenthums. XIX.
die Goldene Regel geradezu aufhebt, müſſen wir die Ueber-
treibung
der Nächſtenliebe auf Koſten der Selbſtliebe betrachten.
Das Chriſtenthum bekämpft und verwirft den Egoismus im
Princip, und doch iſt dieſer Naturtrieb zur Selbſterhaltung abſolut
unentbehrlich; ja, man kann ſagen, daß auch der Altruismus,
ſein ſcheinbares Gegentheil, im Grunde ein verfeinerter Egoismus
iſt. Nichts Großes, nichts Erhabenes iſt jemals ohne Egoismus
geſchehen und ohne die Leidenſchaft, welche uns zu großen
Opfern befähigt. Nur die Ausſchreitungen dieſer Triebe
ſind verwerflich. Zu denjenigen chriſtlichen Geboten, welche uns
in früheſter Jugend als wichtigſte eingeprägt und welche in
Millionen von Predigten verherrlicht werden, gehört der Satz
(Matthäus 5, 44): „Liebet eure Feinde, ſegnet, die euch fluchen,
thut wohl Denen, die euch haſſen, bittet für die, ſo euch be-
leidigen und verfolgen.“ Dieſes Gebot iſt ſehr ideal, aber
ebenſo naturwidrig als praktiſch werthlos. Saladin (a. a. O.
S. 205) ſagt zutreffend: „Dies zu thun, wäre unrecht, wenn es
überhaupt möglich wäre; und es wäre überhaupt unmöglich, ſelbſt
wenn es recht wäre.“ Ebenſo verhält es ſich mit der Anweiſung:
„Wenn dir Jemand den Rock nimmt, dem gieb auch den
Mantel“; d. h. in das moderne Leben überſetzt: „Wenn dich
ein gewiſſenloſer Schuft um die eine Hälfte deines Vermögens
betrügt, dann ſchenke ihm auch noch die andere Hälfte“ — oder
in die politiſche Praxis übertragen: „Wenn euch einfältigen
Deutſchen die frommen Engländer in Afrika eine eurer neuen
werthvollen Kolonien nach der anderen wegnehmen, dann ſchenkt
ihnen auch noch eure übrigen Kolonien — oder am beſten: gebt
ihnen Deutſchland noch dazu!“ Da wir hier gerade die viel-
bewunderte Weltmachts-Politik des modernen England berühren,
wollen wir im Vorbeigehen darauf hinweiſen, in welchem
ſchneidenden Widerſpruch dieſelbe zu allen Grundlehren
der chriſtlichen Liebe ſteht, welche von dieſer großen Nation

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[408/0424] Selbſt-Verachtung des Chriſtenthums. XIX. die Goldene Regel geradezu aufhebt, müſſen wir die Ueber- treibung der Nächſtenliebe auf Koſten der Selbſtliebe betrachten. Das Chriſtenthum bekämpft und verwirft den Egoismus im Princip, und doch iſt dieſer Naturtrieb zur Selbſterhaltung abſolut unentbehrlich; ja, man kann ſagen, daß auch der Altruismus, ſein ſcheinbares Gegentheil, im Grunde ein verfeinerter Egoismus iſt. Nichts Großes, nichts Erhabenes iſt jemals ohne Egoismus geſchehen und ohne die Leidenſchaft, welche uns zu großen Opfern befähigt. Nur die Ausſchreitungen dieſer Triebe ſind verwerflich. Zu denjenigen chriſtlichen Geboten, welche uns in früheſter Jugend als wichtigſte eingeprägt und welche in Millionen von Predigten verherrlicht werden, gehört der Satz (Matthäus 5, 44): „Liebet eure Feinde, ſegnet, die euch fluchen, thut wohl Denen, die euch haſſen, bittet für die, ſo euch be- leidigen und verfolgen.“ Dieſes Gebot iſt ſehr ideal, aber ebenſo naturwidrig als praktiſch werthlos. Saladin (a. a. O. S. 205) ſagt zutreffend: „Dies zu thun, wäre unrecht, wenn es überhaupt möglich wäre; und es wäre überhaupt unmöglich, ſelbſt wenn es recht wäre.“ Ebenſo verhält es ſich mit der Anweiſung: „Wenn dir Jemand den Rock nimmt, dem gieb auch den Mantel“; d. h. in das moderne Leben überſetzt: „Wenn dich ein gewiſſenloſer Schuft um die eine Hälfte deines Vermögens betrügt, dann ſchenke ihm auch noch die andere Hälfte“ — oder in die politiſche Praxis übertragen: „Wenn euch einfältigen Deutſchen die frommen Engländer in Afrika eine eurer neuen werthvollen Kolonien nach der anderen wegnehmen, dann ſchenkt ihnen auch noch eure übrigen Kolonien — oder am beſten: gebt ihnen Deutſchland noch dazu!“ Da wir hier gerade die viel- bewunderte Weltmachts-Politik des modernen England berühren, wollen wir im Vorbeigehen darauf hinweiſen, in welchem ſchneidenden Widerſpruch dieſelbe zu allen Grundlehren der chriſtlichen Liebe ſteht, welche von dieſer großen Nation

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/424>, abgerufen am 25.11.2024.