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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Natur-Verachtung des Christenthums. XIX.
tischen Fehlern, von geduldeten Rohheiten und bedauerlichen
Entbehrungen liegt in dem falschen Anthropismus des
Christenthums,
in der exklusiven Stellung, welche dasselbe
dem Menschen als "Ebenbild Gottes" anweist, im Gegensatze zu
der übrigen Natur. Dadurch hat dasselbe nicht allein zu einer
höchst schädlichen Entfremdung von unserer herrlichen Mutter
"Natur" beigetragen, sondern auch zu einer bedauernswerthen
Verachtung der übrigen Organismen. Das Christenthum kennt
nicht jene rühmliche Liebe zu den Thieren, jenes Mitleid
mit den nächststehenden, uns befreundeten Säugethieren (Hunden,
Pferden, Rindern u. s. w.), welche zu den Sittengesetzen vieler
anderer älterer Religionen gehören, vor Allem der weitverbrei-
tetsten, des Buddhismus. Wer längere Zeit im katholischen
Süd-Europa gelebt hat, ist oftmals Zeuge jener abscheulichen
Thierquälereien gewesen, die uns Thierfreunden sowohl das tiefste
Mitleid als den höchsten Zorn erregen; und wenn er dann jenen
rohen "Christen" Vorwürfe über ihre Grausamkeit macht, erhält
er zur lachenden Antwort: "Ja, die Thiere sind doch keine
Christen!" Leider wurde dieser Irrthum auch durch Descartes
befestigt, der nur dem Menschen eine fühlende Seele zuschrieb, nicht
aber den Thieren. Wie erhaben steht in dieser Beziehung unsere
monistische Ethik über der christlichen! Der Darwinismus
lehrt uns, daß wir zunächst von Primaten und weiterhin von
einer Reihe älterer Säugethiere abstammen, und daß diese
"unsere Brüder" sind; die Physiologie beweist uns, daß
diese Thiere dieselben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir;
daß sie ebenso Lust und Schmerz empfinden wie wir. Kein mit-
fühlender monistischer Naturforscher wird sich jemals jener rohen
Mißhandlung der Thiere schuldig machen, die der gläubige Christ
in seinem anthropistischen Größenwahn -- als "Kind des Gottes
der Liebe"! -- gedankenlos begeht. -- Außerdem aber entzieht
die principielle Natur-Verachtung des Christenthums dem Menschen

Natur-Verachtung des Chriſtenthums. XIX.
tiſchen Fehlern, von geduldeten Rohheiten und bedauerlichen
Entbehrungen liegt in dem falſchen Anthropismus des
Chriſtenthums,
in der exkluſiven Stellung, welche dasſelbe
dem Menſchen als „Ebenbild Gottes“ anweiſt, im Gegenſatze zu
der übrigen Natur. Dadurch hat dasſelbe nicht allein zu einer
höchſt ſchädlichen Entfremdung von unſerer herrlichen Mutter
„Natur“ beigetragen, ſondern auch zu einer bedauernswerthen
Verachtung der übrigen Organismen. Das Chriſtenthum kennt
nicht jene rühmliche Liebe zu den Thieren, jenes Mitleid
mit den nächſtſtehenden, uns befreundeten Säugethieren (Hunden,
Pferden, Rindern u. ſ. w.), welche zu den Sittengeſetzen vieler
anderer älterer Religionen gehören, vor Allem der weitverbrei-
tetſten, des Buddhismus. Wer längere Zeit im katholiſchen
Süd-Europa gelebt hat, iſt oftmals Zeuge jener abſcheulichen
Thierquälereien geweſen, die uns Thierfreunden ſowohl das tiefſte
Mitleid als den höchſten Zorn erregen; und wenn er dann jenen
rohen „Chriſten“ Vorwürfe über ihre Grauſamkeit macht, erhält
er zur lachenden Antwort: „Ja, die Thiere ſind doch keine
Chriſten!“ Leider wurde dieſer Irrthum auch durch Descartes
befeſtigt, der nur dem Menſchen eine fühlende Seele zuſchrieb, nicht
aber den Thieren. Wie erhaben ſteht in dieſer Beziehung unſere
moniſtiſche Ethik über der chriſtlichen! Der Darwinismus
lehrt uns, daß wir zunächſt von Primaten und weiterhin von
einer Reihe älterer Säugethiere abſtammen, und daß dieſe
„unſere Brüder“ ſind; die Phyſiologie beweiſt uns, daß
dieſe Thiere dieſelben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir;
daß ſie ebenſo Luſt und Schmerz empfinden wie wir. Kein mit-
fühlender moniſtiſcher Naturforſcher wird ſich jemals jener rohen
Mißhandlung der Thiere ſchuldig machen, die der gläubige Chriſt
in ſeinem anthropiſtiſchen Größenwahn — als „Kind des Gottes
der Liebe“! — gedankenlos begeht. — Außerdem aber entzieht
die principielle Natur-Verachtung des Chriſtenthums dem Menſchen

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[410/0426] Natur-Verachtung des Chriſtenthums. XIX. tiſchen Fehlern, von geduldeten Rohheiten und bedauerlichen Entbehrungen liegt in dem falſchen Anthropismus des Chriſtenthums, in der exkluſiven Stellung, welche dasſelbe dem Menſchen als „Ebenbild Gottes“ anweiſt, im Gegenſatze zu der übrigen Natur. Dadurch hat dasſelbe nicht allein zu einer höchſt ſchädlichen Entfremdung von unſerer herrlichen Mutter „Natur“ beigetragen, ſondern auch zu einer bedauernswerthen Verachtung der übrigen Organismen. Das Chriſtenthum kennt nicht jene rühmliche Liebe zu den Thieren, jenes Mitleid mit den nächſtſtehenden, uns befreundeten Säugethieren (Hunden, Pferden, Rindern u. ſ. w.), welche zu den Sittengeſetzen vieler anderer älterer Religionen gehören, vor Allem der weitverbrei- tetſten, des Buddhismus. Wer längere Zeit im katholiſchen Süd-Europa gelebt hat, iſt oftmals Zeuge jener abſcheulichen Thierquälereien geweſen, die uns Thierfreunden ſowohl das tiefſte Mitleid als den höchſten Zorn erregen; und wenn er dann jenen rohen „Chriſten“ Vorwürfe über ihre Grauſamkeit macht, erhält er zur lachenden Antwort: „Ja, die Thiere ſind doch keine Chriſten!“ Leider wurde dieſer Irrthum auch durch Descartes befeſtigt, der nur dem Menſchen eine fühlende Seele zuſchrieb, nicht aber den Thieren. Wie erhaben ſteht in dieſer Beziehung unſere moniſtiſche Ethik über der chriſtlichen! Der Darwinismus lehrt uns, daß wir zunächſt von Primaten und weiterhin von einer Reihe älterer Säugethiere abſtammen, und daß dieſe „unſere Brüder“ ſind; die Phyſiologie beweiſt uns, daß dieſe Thiere dieſelben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir; daß ſie ebenſo Luſt und Schmerz empfinden wie wir. Kein mit- fühlender moniſtiſcher Naturforſcher wird ſich jemals jener rohen Mißhandlung der Thiere ſchuldig machen, die der gläubige Chriſt in ſeinem anthropiſtiſchen Größenwahn — als „Kind des Gottes der Liebe“! — gedankenlos begeht. — Außerdem aber entzieht die principielle Natur-Verachtung des Chriſtenthums dem Menſchen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/426>, abgerufen am 25.11.2024.