Die Zahl der Welträthsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Natur-Erkenntniß im Laufe des neun- zehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universal-Räthsel zurückgeführt, auf das Substanz-Problem. Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder, welches der realistische Naturforscher als Natur oder Universum verherrlicht, der idealistische Philosoph als Substanz oder Kosmos, der fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute behaupten, daß die wunderbaren Fortschritte unserer modernen Kosmologie dieses "Substanz-Räthsel" gelöst oder auch nur, daß sie uns dessen Lösung sehr viel näher gebracht haben?
Die Antwort auf diese Schlußfrage fällt natürlich sehr verschieden aus, entsprechend dem Standpunkte des fragenden Philosophen und seiner empirischen Kenntniß der wirklichen Welt. Wir geben von vornherein zu, daß wir dem innersten Wesen der Natur heute vielleicht noch ebenso fremd und verständnißlos gegenüberstehen, wie Anaximander und Empedokles vor 2400 Jahren, wie Spinoza und Newton vor 200 Jahren, wie Kant und Goethe vor 100 Jahren. Ja wir müssen sogar eingestehen, daß uns dieses eigentliche Wesen der Substanz immer wunderbarer und räthselhafter wird, je tiefer wir in die Erkenntniß ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je gründlicher wir ihre unzähligen Erscheinungsformen und deren Entwickelung kennen lernen. Was als "Ding an sich" hinter den erkennbaren Erscheinungen steckt, das wissen wir auch heute noch nicht. Aber was geht uns dieses mystische "Ding an sich" überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu seiner Erforschung be- sitzen, wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existirt oder nicht? Ueberlassen wir daher das unfruchtbare Grübeln über
XX. Schlußbetrachtung.
Schlußbetrachtung.
Die Zahl der Welträthſel hat ſich durch die angeführten Fortſchritte der wahren Natur-Erkenntniß im Laufe des neun- zehnten Jahrhunderts ſtetig vermindert; ſie iſt ſchließlich auf ein einziges allumfaſſendes Univerſal-Räthſel zurückgeführt, auf das Subſtanz-Problem. Was iſt denn nun eigentlich im tiefſten Grunde dieſes allgewaltige Weltwunder, welches der realiſtiſche Naturforſcher als Natur oder Univerſum verherrlicht, der idealiſtiſche Philoſoph als Subſtanz oder Kosmos, der fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute behaupten, daß die wunderbaren Fortſchritte unſerer modernen Kosmologie dieſes „Subſtanz-Räthſel“ gelöſt oder auch nur, daß ſie uns deſſen Löſung ſehr viel näher gebracht haben?
Die Antwort auf dieſe Schlußfrage fällt natürlich ſehr verſchieden aus, entſprechend dem Standpunkte des fragenden Philoſophen und ſeiner empiriſchen Kenntniß der wirklichen Welt. Wir geben von vornherein zu, daß wir dem innerſten Weſen der Natur heute vielleicht noch ebenſo fremd und verſtändnißlos gegenüberſtehen, wie Anaximander und Empedokles vor 2400 Jahren, wie Spinoza und Newton vor 200 Jahren, wie Kant und Goethe vor 100 Jahren. Ja wir müſſen ſogar eingeſtehen, daß uns dieſes eigentliche Weſen der Subſtanz immer wunderbarer und räthſelhafter wird, je tiefer wir in die Erkenntniß ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je gründlicher wir ihre unzähligen Erſcheinungsformen und deren Entwickelung kennen lernen. Was als „Ding an ſich“ hinter den erkennbaren Erſcheinungen ſteckt, das wiſſen wir auch heute noch nicht. Aber was geht uns dieſes myſtiſche „Ding an ſich“ überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu ſeiner Erforſchung be- ſitzen, wenn wir nicht einmal klar wiſſen, ob es exiſtirt oder nicht? Ueberlaſſen wir daher das unfruchtbare Grübeln über
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0453"n="437"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">XX.</hi> Schlußbetrachtung.</fw><lb/><divn="1"><head><hirendition="#b">Schlußbetrachtung.</hi></head><lb/><p>Die Zahl der Welträthſel hat ſich durch die angeführten<lb/>
Fortſchritte der wahren Natur-Erkenntniß im Laufe des neun-<lb/>
zehnten Jahrhunderts ſtetig vermindert; ſie iſt ſchließlich auf<lb/>
ein einziges allumfaſſendes Univerſal-Räthſel zurückgeführt, auf<lb/>
das <hirendition="#g">Subſtanz-Problem</hi>. Was iſt denn nun eigentlich im<lb/>
tiefſten Grunde dieſes allgewaltige Weltwunder, welches der<lb/>
realiſtiſche Naturforſcher als <hirendition="#g">Natur</hi> oder Univerſum verherrlicht,<lb/>
der idealiſtiſche Philoſoph als <hirendition="#g">Subſtanz</hi> oder Kosmos, der<lb/>
fromme Gläubige als Schöpfer oder <hirendition="#g">Gott</hi>? Können wir heute<lb/>
behaupten, daß die wunderbaren Fortſchritte unſerer modernen<lb/>
Kosmologie dieſes „Subſtanz-Räthſel“ gelöſt oder auch nur, daß<lb/>ſie uns deſſen Löſung ſehr viel näher gebracht haben?</p><lb/><p>Die Antwort auf dieſe Schlußfrage fällt natürlich ſehr<lb/>
verſchieden aus, entſprechend dem Standpunkte des fragenden<lb/>
Philoſophen und ſeiner empiriſchen Kenntniß der wirklichen Welt.<lb/>
Wir geben von vornherein zu, daß wir dem innerſten Weſen der<lb/>
Natur heute vielleicht noch ebenſo fremd und verſtändnißlos<lb/>
gegenüberſtehen, wie <hirendition="#g">Anaximander</hi> und <hirendition="#g">Empedokles</hi> vor<lb/>
2400 Jahren, wie <hirendition="#g">Spinoza</hi> und <hirendition="#g">Newton</hi> vor 200 Jahren,<lb/>
wie <hirendition="#g">Kant</hi> und <hirendition="#g">Goethe</hi> vor 100 Jahren. Ja wir müſſen<lb/>ſogar eingeſtehen, daß uns dieſes eigentliche Weſen der Subſtanz<lb/>
immer wunderbarer und räthſelhafter wird, je tiefer wir in die<lb/>
Erkenntniß ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen,<lb/>
je gründlicher wir ihre unzähligen Erſcheinungsformen und deren<lb/>
Entwickelung kennen lernen. Was als <hirendition="#g">„Ding an ſich“</hi> hinter<lb/>
den erkennbaren Erſcheinungen ſteckt, das wiſſen wir auch heute<lb/>
noch nicht. Aber was geht uns dieſes myſtiſche „Ding an ſich“<lb/>
überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu ſeiner Erforſchung be-<lb/>ſitzen, wenn wir nicht einmal klar wiſſen, ob es exiſtirt oder<lb/>
nicht? Ueberlaſſen wir daher das unfruchtbare Grübeln über<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[437/0453]
XX. Schlußbetrachtung.
Schlußbetrachtung.
Die Zahl der Welträthſel hat ſich durch die angeführten
Fortſchritte der wahren Natur-Erkenntniß im Laufe des neun-
zehnten Jahrhunderts ſtetig vermindert; ſie iſt ſchließlich auf
ein einziges allumfaſſendes Univerſal-Räthſel zurückgeführt, auf
das Subſtanz-Problem. Was iſt denn nun eigentlich im
tiefſten Grunde dieſes allgewaltige Weltwunder, welches der
realiſtiſche Naturforſcher als Natur oder Univerſum verherrlicht,
der idealiſtiſche Philoſoph als Subſtanz oder Kosmos, der
fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute
behaupten, daß die wunderbaren Fortſchritte unſerer modernen
Kosmologie dieſes „Subſtanz-Räthſel“ gelöſt oder auch nur, daß
ſie uns deſſen Löſung ſehr viel näher gebracht haben?
Die Antwort auf dieſe Schlußfrage fällt natürlich ſehr
verſchieden aus, entſprechend dem Standpunkte des fragenden
Philoſophen und ſeiner empiriſchen Kenntniß der wirklichen Welt.
Wir geben von vornherein zu, daß wir dem innerſten Weſen der
Natur heute vielleicht noch ebenſo fremd und verſtändnißlos
gegenüberſtehen, wie Anaximander und Empedokles vor
2400 Jahren, wie Spinoza und Newton vor 200 Jahren,
wie Kant und Goethe vor 100 Jahren. Ja wir müſſen
ſogar eingeſtehen, daß uns dieſes eigentliche Weſen der Subſtanz
immer wunderbarer und räthſelhafter wird, je tiefer wir in die
Erkenntniß ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen,
je gründlicher wir ihre unzähligen Erſcheinungsformen und deren
Entwickelung kennen lernen. Was als „Ding an ſich“ hinter
den erkennbaren Erſcheinungen ſteckt, das wiſſen wir auch heute
noch nicht. Aber was geht uns dieſes myſtiſche „Ding an ſich“
überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu ſeiner Erforſchung be-
ſitzen, wenn wir nicht einmal klar wiſſen, ob es exiſtirt oder
nicht? Ueberlaſſen wir daher das unfruchtbare Grübeln über
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/453>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.