Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Keimanlage des Menschen. IV.
an den Seeigeln begann. Die schöne Hauptstadt der Rosmarin-
Insel, in welcher der große Napoleon 1769 geboren wurde, war
auch der Ort, an welchem zuerst die Geheimnisse der thierischen
Empfängniß in den wichtigsten Einzelheiten genau beobachtet
wurden. Hertwig fand, daß das einzige wesentliche Ereigniß
bei der Befruchtung die Verschmelzung der beiden Geschlechts-
zellen und ihrer Kerne ist. Von den Millionen männlicher
Geißelzellen, welche die weibliche Eizelle umschwärmen, dringt
nur eine einzige in deren Plasmakörper ein. Die Kerne beider
Zellen, der Spermakern und der Eikern, werden durch eine
geheimnißvolle Kraft, die wir als eine chemische, dem Geruch
verwandte Sinnesthätigkeit deuten, zu einander hingezogen,
nähern sich und verschmelzen mit einander. So entsteht durch
die sinnliche Empfindung der beiden Geschlechts-Kerne, in Folge
von "erotischem Chemotropismus", eine neue Zelle, welche
die erblichen Eigenschaften beider Eltern in sich vereinigt; der
Sperma-Kern überträgt die väterlichen, der Eikern die mütter-
lichen Charakter-Züge auf die Stammzelle, aus der sich nun
das Kind entwickelt; das gilt ebenso von den körperlichen, wie
von den sogenannten geistigen Eigenschaften.

Keimanlage des Menschen. Die Bildung der Keim-
blätter durch wiederholte Theilung der Stammzelle, die Ent-
stehung der Gastrula und der weiterhin aus ihr hervorgehenden
Keimformen geschieht beim Menschen genau so wie bei den
übrigen höheren Säugethieren, unter denselben eigenthümlichen
Besonderheiten, welche diese Gruppe vor den niederen Wirbel-
thieren auszeichnen. In früheren Perioden der Keimesgeschichte
sind diese Special-Charaktere der Placentalien noch nicht aus-
geprägt. Die bedeutungsvolle Keimform der Chordula oder
"Chordalarve", die zunächst aus der Gastrula entsteht, zeigt bei
allen Vertebraten im Wesentlichen die gleiche Bildung: ein ein-
facher gerader Axenstab, die Chorda, geht der Länge nach durch

Keimanlage des Menſchen. IV.
an den Seeigeln begann. Die ſchöne Hauptſtadt der Rosmarin-
Inſel, in welcher der große Napoleon 1769 geboren wurde, war
auch der Ort, an welchem zuerſt die Geheimniſſe der thieriſchen
Empfängniß in den wichtigſten Einzelheiten genau beobachtet
wurden. Hertwig fand, daß das einzige weſentliche Ereigniß
bei der Befruchtung die Verſchmelzung der beiden Geſchlechts-
zellen und ihrer Kerne iſt. Von den Millionen männlicher
Geißelzellen, welche die weibliche Eizelle umſchwärmen, dringt
nur eine einzige in deren Plasmakörper ein. Die Kerne beider
Zellen, der Spermakern und der Eikern, werden durch eine
geheimnißvolle Kraft, die wir als eine chemiſche, dem Geruch
verwandte Sinnesthätigkeit deuten, zu einander hingezogen,
nähern ſich und verſchmelzen mit einander. So entſteht durch
die ſinnliche Empfindung der beiden Geſchlechts-Kerne, in Folge
von „erotiſchem Chemotropismus“, eine neue Zelle, welche
die erblichen Eigenſchaften beider Eltern in ſich vereinigt; der
Sperma-Kern überträgt die väterlichen, der Eikern die mütter-
lichen Charakter-Züge auf die Stammzelle, aus der ſich nun
das Kind entwickelt; das gilt ebenſo von den körperlichen, wie
von den ſogenannten geiſtigen Eigenſchaften.

Keimanlage des Menſchen. Die Bildung der Keim-
blätter durch wiederholte Theilung der Stammzelle, die Ent-
ſtehung der Gaſtrula und der weiterhin aus ihr hervorgehenden
Keimformen geſchieht beim Menſchen genau ſo wie bei den
übrigen höheren Säugethieren, unter denſelben eigenthümlichen
Beſonderheiten, welche dieſe Gruppe vor den niederen Wirbel-
thieren auszeichnen. In früheren Perioden der Keimesgeſchichte
ſind dieſe Special-Charaktere der Placentalien noch nicht aus-
geprägt. Die bedeutungsvolle Keimform der Chordula oder
„Chordalarve“, die zunächſt aus der Gaſtrula entſteht, zeigt bei
allen Vertebraten im Weſentlichen die gleiche Bildung: ein ein-
facher gerader Axenſtab, die Chorda, geht der Länge nach durch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0090" n="74"/><fw place="top" type="header">Keimanlage des Men&#x017F;chen. <hi rendition="#aq">IV.</hi></fw><lb/>
an den Seeigeln begann. Die &#x017F;chöne Haupt&#x017F;tadt der Rosmarin-<lb/>
In&#x017F;el, in welcher der große Napoleon 1769 geboren wurde, war<lb/>
auch der Ort, an welchem zuer&#x017F;t die Geheimni&#x017F;&#x017F;e der thieri&#x017F;chen<lb/>
Empfängniß in den wichtig&#x017F;ten Einzelheiten genau beobachtet<lb/>
wurden. <hi rendition="#g">Hertwig</hi> fand, daß das einzige we&#x017F;entliche Ereigniß<lb/>
bei der Befruchtung die Ver&#x017F;chmelzung der beiden Ge&#x017F;chlechts-<lb/>
zellen und ihrer Kerne i&#x017F;t. Von den Millionen männlicher<lb/>
Geißelzellen, welche die weibliche Eizelle um&#x017F;chwärmen, dringt<lb/>
nur eine einzige in deren Plasmakörper ein. Die Kerne beider<lb/>
Zellen, der Spermakern und der Eikern, werden durch eine<lb/>
geheimnißvolle Kraft, die wir als eine chemi&#x017F;che, dem Geruch<lb/>
verwandte <hi rendition="#g">Sinnesthätigkeit</hi> deuten, zu einander hingezogen,<lb/>
nähern &#x017F;ich und ver&#x017F;chmelzen mit einander. So ent&#x017F;teht durch<lb/>
die &#x017F;innliche Empfindung der beiden Ge&#x017F;chlechts-Kerne, in Folge<lb/>
von &#x201E;<hi rendition="#g">eroti&#x017F;chem Chemotropismus</hi>&#x201C;, eine neue Zelle, welche<lb/>
die erblichen Eigen&#x017F;chaften beider Eltern in &#x017F;ich vereinigt; der<lb/>
Sperma-Kern überträgt die väterlichen, der Eikern die mütter-<lb/>
lichen Charakter-Züge auf die <hi rendition="#g">Stammzelle</hi>, aus der &#x017F;ich nun<lb/>
das Kind entwickelt; das gilt eben&#x017F;o von den körperlichen, wie<lb/>
von den &#x017F;ogenannten gei&#x017F;tigen Eigen&#x017F;chaften.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Keimanlage des Men&#x017F;chen.</hi> Die Bildung der Keim-<lb/>
blätter durch wiederholte Theilung der Stammzelle, die Ent-<lb/>
&#x017F;tehung der Ga&#x017F;trula und der weiterhin aus ihr hervorgehenden<lb/>
Keimformen ge&#x017F;chieht beim Men&#x017F;chen genau &#x017F;o wie bei den<lb/>
übrigen höheren Säugethieren, unter den&#x017F;elben eigenthümlichen<lb/>
Be&#x017F;onderheiten, welche die&#x017F;e Gruppe vor den niederen Wirbel-<lb/>
thieren auszeichnen. In früheren Perioden der Keimesge&#x017F;chichte<lb/>
&#x017F;ind die&#x017F;e Special-Charaktere der Placentalien noch nicht aus-<lb/>
geprägt. Die bedeutungsvolle Keimform der <hi rendition="#g">Chordula</hi> oder<lb/>
&#x201E;Chordalarve&#x201C;, die zunäch&#x017F;t aus der Ga&#x017F;trula ent&#x017F;teht, zeigt bei<lb/>
allen Vertebraten im We&#x017F;entlichen die gleiche Bildung: ein ein-<lb/>
facher gerader Axen&#x017F;tab, die Chorda, geht der Länge nach durch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0090] Keimanlage des Menſchen. IV. an den Seeigeln begann. Die ſchöne Hauptſtadt der Rosmarin- Inſel, in welcher der große Napoleon 1769 geboren wurde, war auch der Ort, an welchem zuerſt die Geheimniſſe der thieriſchen Empfängniß in den wichtigſten Einzelheiten genau beobachtet wurden. Hertwig fand, daß das einzige weſentliche Ereigniß bei der Befruchtung die Verſchmelzung der beiden Geſchlechts- zellen und ihrer Kerne iſt. Von den Millionen männlicher Geißelzellen, welche die weibliche Eizelle umſchwärmen, dringt nur eine einzige in deren Plasmakörper ein. Die Kerne beider Zellen, der Spermakern und der Eikern, werden durch eine geheimnißvolle Kraft, die wir als eine chemiſche, dem Geruch verwandte Sinnesthätigkeit deuten, zu einander hingezogen, nähern ſich und verſchmelzen mit einander. So entſteht durch die ſinnliche Empfindung der beiden Geſchlechts-Kerne, in Folge von „erotiſchem Chemotropismus“, eine neue Zelle, welche die erblichen Eigenſchaften beider Eltern in ſich vereinigt; der Sperma-Kern überträgt die väterlichen, der Eikern die mütter- lichen Charakter-Züge auf die Stammzelle, aus der ſich nun das Kind entwickelt; das gilt ebenſo von den körperlichen, wie von den ſogenannten geiſtigen Eigenſchaften. Keimanlage des Menſchen. Die Bildung der Keim- blätter durch wiederholte Theilung der Stammzelle, die Ent- ſtehung der Gaſtrula und der weiterhin aus ihr hervorgehenden Keimformen geſchieht beim Menſchen genau ſo wie bei den übrigen höheren Säugethieren, unter denſelben eigenthümlichen Beſonderheiten, welche dieſe Gruppe vor den niederen Wirbel- thieren auszeichnen. In früheren Perioden der Keimesgeſchichte ſind dieſe Special-Charaktere der Placentalien noch nicht aus- geprägt. Die bedeutungsvolle Keimform der Chordula oder „Chordalarve“, die zunächſt aus der Gaſtrula entſteht, zeigt bei allen Vertebraten im Weſentlichen die gleiche Bildung: ein ein- facher gerader Axenſtab, die Chorda, geht der Länge nach durch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/90
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/90>, abgerufen am 27.11.2024.