Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744.dem Geliebten redet, so preiset man desselben Vollkommenheiten und Wir haben schon unter den Scolien, oder Trink-Liedern der Grie- Von dem ersten schreibt er so: Clearch redet in dem ersten Buche seiner Liebes-Geschichte von einem Liede, welches Nomion heißt, und von der Eriphanis verfertiget war, folgendergestalt. Die Sängerinn Eriphanis liebte den Jäger Menalcas. Aus Liebe zu ihm begab sie sich auch auf die Jagd, und setzte mit ihm den wilden Thieren nach. Sie durchstrich die bergigten Gegenden, wenn sie von Dorn-Büschen noch so sehr bedeckt waren, und das Herumschweifen der Jno ist mit dem ih- rigen nicht in Vergleichung zu stellen. Die Schmerzen dieser verliebten unglücklichen Schöne erweckten nicht allein in den unempfindlichsten Menschen, sondern auch in den wildesten und grausamsten Thieren ein Mitleiden, ja gar zärtliche und verliebte Bewegungen. Hierüber nun machte E 3
dem Geliebten redet, ſo preiſet man deſſelben Vollkommenheiten und Wir haben ſchon unter den Scolien, oder Trink-Liedern der Grie- Von dem erſten ſchreibt er ſo: Clearch redet in dem erſten Buche ſeiner Liebes-Geſchichte von einem Liede, welches Nomion heißt, und von der Eriphanis verfertiget war, folgendergeſtalt. Die Saͤngerinn Eriphanis liebte den Jaͤger Menalcas. Aus Liebe zu ihm begab ſie ſich auch auf die Jagd, und ſetzte mit ihm den wilden Thieren nach. Sie durchſtrich die bergigten Gegenden, wenn ſie von Dorn-Buͤſchen noch ſo ſehr bedeckt waren, und das Herumſchweifen der Jno iſt mit dem ih- rigen nicht in Vergleichung zu ſtellen. Die Schmerzen dieſer verliebten ungluͤcklichen Schoͤne erweckten nicht allein in den unempfindlichſten Menſchen, ſondern auch in den wildeſten und grauſamſten Thieren ein Mitleiden, ja gar zaͤrtliche und verliebte Bewegungen. Hieruͤber nun machte E 3
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0047" n="37"/> dem Geliebten redet, ſo preiſet man deſſelben Vollkommenheiten und<lb/> Schoͤnheiten durch Lieder, deren Wirkung allemal viel lebhafter iſt und<lb/> laͤnger waͤhret, als der Eindruck, den alle andere Arten der Rede machen.<lb/> Schicket man ſeinem Schatze Briefe oder Geſchenke, ſo ſuchet man den<lb/> Wehrt derſelben durch einige verliebte Verſe, die ſich ſingen laſſen, zu<lb/> vermehren. Kurz, ſagt Plutarch nach dem Theophraſt, drey Sachen<lb/> bewegen uns zum Singen: Der Schmerz, die Freude und die Begei-<lb/> ſterung. Der Schmerz preßt uns Seufzer und Klagen aus, die dem<lb/> Singen nahe kommen; und daher koͤmmt es eben, daß die Redner<lb/> bey den Schluͤſſen ihrer Reden, und die Schau-Spieler in ihren Kla-<lb/> gen eine ſingende Stimme annehmen. Die Freude verurſacht heftige<lb/> Bewegungen; Leute von ſchlechter Lebens-Art treibet ſie zum Springen<lb/> und Tanzen: ſo weit gehn nun zwar vernuͤnftigere und geſetztere Per-<lb/> ſonen nicht; aber ſie bringt ſie doch gewiß zum Singen. Die Begei-<lb/> ſterung bringt in uns gewaltige Veraͤnderungen hervor; ſie veraͤndert<lb/> ſo gar die Stimme, und reißt den ganzen Koͤrper aus ſeiner ordentlichen<lb/> Stellung. Dieſes ſehen wir bey dem Geſchrey der Bacchanten und<lb/> aus den Antworten der Orakel; und in beiden hoͤren wir auch eine ge-<lb/> wiſſe Muſik und einen Tact. Nun iſt kein Zweifel, daß ſich bey der<lb/> Liebe die heftigſten Schmerzen, die lebhafteſten Freuden und die ſtaͤrk-<lb/> ſten Entzuͤckungen oder Begeiſterungen befinden. Dieſer Philoſoph<lb/> ſchließt demnach ſo: Da dieſe Leidenſchaft die drey Urſachen unſerer<lb/> Neigung zum Singen in ſich vereiniget, ſo muß ſie gewiß unter allen<lb/> am geſchickteſten ſeyn, uns Lieder ſingen zu lehren.</p><lb/> <p>Wir haben ſchon unter den Scolien, oder Trink-Liedern der Grie-<lb/> chen einige Exempel von ſolchen verliebten Liedern geſehen. Es iſt glaub-<lb/> lich, daß die Lieder der Hirten oft von dieſer Art waren. Vielleicht wur-<lb/> den auch damals, wie heut zu Tage, bey andern Verrichtungen und Ge-<lb/> legenheiten Lieder geſungen, deren Jnhalt blos die Liebe war. Dem ſey,<lb/> wie ihm wolle; Athenaͤus hat uns das Gedaͤchtniß dreier Lieder von<lb/> dieſer Art erhalten; und wir muͤſſen ſie hier auch nicht vergeſſen.</p><lb/> <list> <item>Von dem erſten ſchreibt er ſo: Clearch redet in dem erſten Buche<lb/> ſeiner Liebes-Geſchichte von einem Liede, welches Nomion heißt, und<lb/> von der Eriphanis verfertiget war, folgendergeſtalt. Die Saͤngerinn<lb/> Eriphanis liebte den Jaͤger Menalcas. Aus Liebe zu ihm begab ſie ſich<lb/> auch auf die Jagd, und ſetzte mit ihm den wilden Thieren nach. Sie<lb/> durchſtrich die bergigten Gegenden, wenn ſie von Dorn-Buͤſchen noch<lb/> ſo ſehr bedeckt waren, und das Herumſchweifen der Jno iſt mit dem ih-<lb/> rigen nicht in Vergleichung zu ſtellen. Die Schmerzen dieſer verliebten<lb/> ungluͤcklichen Schoͤne erweckten nicht allein in den unempfindlichſten<lb/> Menſchen, ſondern auch in den wildeſten und grauſamſten Thieren ein<lb/> Mitleiden, ja gar zaͤrtliche und verliebte Bewegungen. Hieruͤber nun<lb/> <fw place="bottom" type="sig">E 3</fw><fw place="bottom" type="catch">machte</fw><lb/></item> </list> </div> </div> </body> </text> </TEI> [37/0047]
dem Geliebten redet, ſo preiſet man deſſelben Vollkommenheiten und
Schoͤnheiten durch Lieder, deren Wirkung allemal viel lebhafter iſt und
laͤnger waͤhret, als der Eindruck, den alle andere Arten der Rede machen.
Schicket man ſeinem Schatze Briefe oder Geſchenke, ſo ſuchet man den
Wehrt derſelben durch einige verliebte Verſe, die ſich ſingen laſſen, zu
vermehren. Kurz, ſagt Plutarch nach dem Theophraſt, drey Sachen
bewegen uns zum Singen: Der Schmerz, die Freude und die Begei-
ſterung. Der Schmerz preßt uns Seufzer und Klagen aus, die dem
Singen nahe kommen; und daher koͤmmt es eben, daß die Redner
bey den Schluͤſſen ihrer Reden, und die Schau-Spieler in ihren Kla-
gen eine ſingende Stimme annehmen. Die Freude verurſacht heftige
Bewegungen; Leute von ſchlechter Lebens-Art treibet ſie zum Springen
und Tanzen: ſo weit gehn nun zwar vernuͤnftigere und geſetztere Per-
ſonen nicht; aber ſie bringt ſie doch gewiß zum Singen. Die Begei-
ſterung bringt in uns gewaltige Veraͤnderungen hervor; ſie veraͤndert
ſo gar die Stimme, und reißt den ganzen Koͤrper aus ſeiner ordentlichen
Stellung. Dieſes ſehen wir bey dem Geſchrey der Bacchanten und
aus den Antworten der Orakel; und in beiden hoͤren wir auch eine ge-
wiſſe Muſik und einen Tact. Nun iſt kein Zweifel, daß ſich bey der
Liebe die heftigſten Schmerzen, die lebhafteſten Freuden und die ſtaͤrk-
ſten Entzuͤckungen oder Begeiſterungen befinden. Dieſer Philoſoph
ſchließt demnach ſo: Da dieſe Leidenſchaft die drey Urſachen unſerer
Neigung zum Singen in ſich vereiniget, ſo muß ſie gewiß unter allen
am geſchickteſten ſeyn, uns Lieder ſingen zu lehren.
Wir haben ſchon unter den Scolien, oder Trink-Liedern der Grie-
chen einige Exempel von ſolchen verliebten Liedern geſehen. Es iſt glaub-
lich, daß die Lieder der Hirten oft von dieſer Art waren. Vielleicht wur-
den auch damals, wie heut zu Tage, bey andern Verrichtungen und Ge-
legenheiten Lieder geſungen, deren Jnhalt blos die Liebe war. Dem ſey,
wie ihm wolle; Athenaͤus hat uns das Gedaͤchtniß dreier Lieder von
dieſer Art erhalten; und wir muͤſſen ſie hier auch nicht vergeſſen.
Von dem erſten ſchreibt er ſo: Clearch redet in dem erſten Buche
ſeiner Liebes-Geſchichte von einem Liede, welches Nomion heißt, und
von der Eriphanis verfertiget war, folgendergeſtalt. Die Saͤngerinn
Eriphanis liebte den Jaͤger Menalcas. Aus Liebe zu ihm begab ſie ſich
auch auf die Jagd, und ſetzte mit ihm den wilden Thieren nach. Sie
durchſtrich die bergigten Gegenden, wenn ſie von Dorn-Buͤſchen noch
ſo ſehr bedeckt waren, und das Herumſchweifen der Jno iſt mit dem ih-
rigen nicht in Vergleichung zu ſtellen. Die Schmerzen dieſer verliebten
ungluͤcklichen Schoͤne erweckten nicht allein in den unempfindlichſten
Menſchen, ſondern auch in den wildeſten und grauſamſten Thieren ein
Mitleiden, ja gar zaͤrtliche und verliebte Bewegungen. Hieruͤber nun
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