Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hagenauer, Arnold: Muspilli. Linz u. a., 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

der Vertiefung meiner seelischen Lebensfunctionen vor sich gieng, der mir Stunde für Stunde blutigere Wunden schlug.

Es gibt gewiß Naturen, die schon ihr eigener animalischer Werdeproceß durch die dadurch geschaffenen Eigenschaften ihres Denkapparates von vorneherein dazu bestimmt, einst nur nach den Ergebnissen ihres forschenden Denkens, nach diesen letzten individuellen Wahrheiten zu handeln. Andere aber sind ab origine unselbständig, was die Überwerte anbetrifft, welche sie annehmen, und an die sie glauben. Ich möchte sagen, für sie sind die Evangelien die sittlichen Ideale, jene bald streng philosophischen, bald auffallend empirisch-unphilosophischen Theoreme, die uns gewaltsam zu den fixen Ideen drängen, welche unsere ganze Gesellschaft beherrschen und unser Denken durch unsere Feigheit zügeln: Staat, Moral, Sitte, Pflicht gegen die Nächsten und ihr Eigenthum, als da ist: Weib, Haus, Garten, Kind, seine Leidenschaften, seine Ansichten, kurz alles, was sein Egoismus zäh umklammert, ergo die ganze, große, conventionelle Lüge im übertragenen Wirkungskreise.

Ich gehörte zu den letzteren. Aber meine Ich-Natur wollte stark und unabhängig und frei - oder nicht sein. Darum mußte ich einsehen lernen, daß ich nur allein sein

der Vertiefung meiner seelischen Lebensfunctionen vor sich gieng, der mir Stunde für Stunde blutigere Wunden schlug.

Es gibt gewiß Naturen, die schon ihr eigener animalischer Werdeproceß durch die dadurch geschaffenen Eigenschaften ihres Denkapparates von vorneherein dazu bestimmt, einst nur nach den Ergebnissen ihres forschenden Denkens, nach diesen letzten individuellen Wahrheiten zu handeln. Andere aber sind ab origine unselbständig, was die Überwerte anbetrifft, welche sie annehmen, und an die sie glauben. Ich möchte sagen, für sie sind die Evangelien die sittlichen Ideale, jene bald streng philosophischen, bald auffallend empirisch-unphilosophischen Theoreme, die uns gewaltsam zu den fixen Ideen drängen, welche unsere ganze Gesellschaft beherrschen und unser Denken durch unsere Feigheit zügeln: Staat, Moral, Sitte, Pflicht gegen die Nächsten und ihr Eigenthum, als da ist: Weib, Haus, Garten, Kind, seine Leidenschaften, seine Ansichten, kurz alles, was sein Egoismus zäh umklammert, ergo die ganze, große, conventionelle Lüge im übertragenen Wirkungskreise.

Ich gehörte zu den letzteren. Aber meine Ich-Natur wollte stark und unabhängig und frei – oder nicht sein. Darum mußte ich einsehen lernen, daß ich nur allein sein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0053" n="55"/>
der Vertiefung meiner seelischen Lebensfunctionen vor sich gieng, der mir Stunde für Stunde blutigere Wunden schlug.</p>
          <p>Es gibt gewiß Naturen, die schon ihr eigener animalischer Werdeproceß durch die dadurch geschaffenen Eigenschaften ihres Denkapparates von vorneherein dazu bestimmt, einst nur nach den Ergebnissen ihres forschenden Denkens, nach diesen letzten individuellen Wahrheiten zu handeln. Andere aber sind <hi rendition="#aq">ab origine</hi> unselbständig, was die Überwerte anbetrifft, welche sie annehmen, und an die sie glauben. Ich möchte sagen, für sie sind die Evangelien die sittlichen Ideale, jene bald streng philosophischen, bald auffallend empirisch-unphilosophischen Theoreme, die uns gewaltsam zu den fixen Ideen drängen, welche unsere ganze Gesellschaft beherrschen und unser Denken durch unsere Feigheit zügeln: Staat, Moral, Sitte, Pflicht gegen die Nächsten und ihr Eigenthum, als da ist: Weib, Haus, Garten, Kind, seine Leidenschaften, seine Ansichten, kurz alles, was sein Egoismus zäh umklammert, <hi rendition="#aq">ergo</hi> die ganze, große, conventionelle Lüge im übertragenen Wirkungskreise.</p>
          <p>Ich gehörte zu den letzteren. Aber meine Ich-Natur wollte stark und unabhängig und frei &#x2013; oder nicht sein. Darum mußte ich einsehen lernen, daß ich nur allein sein
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0053] der Vertiefung meiner seelischen Lebensfunctionen vor sich gieng, der mir Stunde für Stunde blutigere Wunden schlug. Es gibt gewiß Naturen, die schon ihr eigener animalischer Werdeproceß durch die dadurch geschaffenen Eigenschaften ihres Denkapparates von vorneherein dazu bestimmt, einst nur nach den Ergebnissen ihres forschenden Denkens, nach diesen letzten individuellen Wahrheiten zu handeln. Andere aber sind ab origine unselbständig, was die Überwerte anbetrifft, welche sie annehmen, und an die sie glauben. Ich möchte sagen, für sie sind die Evangelien die sittlichen Ideale, jene bald streng philosophischen, bald auffallend empirisch-unphilosophischen Theoreme, die uns gewaltsam zu den fixen Ideen drängen, welche unsere ganze Gesellschaft beherrschen und unser Denken durch unsere Feigheit zügeln: Staat, Moral, Sitte, Pflicht gegen die Nächsten und ihr Eigenthum, als da ist: Weib, Haus, Garten, Kind, seine Leidenschaften, seine Ansichten, kurz alles, was sein Egoismus zäh umklammert, ergo die ganze, große, conventionelle Lüge im übertragenen Wirkungskreise. Ich gehörte zu den letzteren. Aber meine Ich-Natur wollte stark und unabhängig und frei – oder nicht sein. Darum mußte ich einsehen lernen, daß ich nur allein sein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hagenauer_muspilli_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hagenauer_muspilli_1900/53
Zitationshilfe: Hagenauer, Arnold: Muspilli. Linz u. a., 1900, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hagenauer_muspilli_1900/53>, abgerufen am 21.11.2024.