Auf alle diese Einwendungen läßt sich am leichtesten so viel antworten, daß man sie gar nicht zugibt. Es be- darf die Ernährung einen trägen und zähern Saft, da- hingegen die Sinnen und die Bewegung eine höchst be- wegliche Flüßigkeit erfordern, die sich durchaus nicht an die Wände ihres Kanals anhängen muß. Und wir ha- ben auch gezeigt, daß im menschlichen Körper viele Theile ohne Nerven sind, welche dennoch eben so gut er- nährt werden wollen; hingegen sind an andern Orten zwar Nerven, aber in so geringer Anzahl, daß man von ihnen nimmermehr erwarten kann, daß sie die so grosse Leber, Miltz oder die Lunge ernähren können. Wenn ein Nerve Schaden gelitten, so verliehrt das Glied seine ganze Brauchbarkeit, und Bewegung, und nun ist ohne Zweifel von der Festigkeit der Faser dasienige ab- gegangen, welches die Nerven selbst liefern. Es hat auch bereits Bartholin längst angemerkt d, daß diese Schwindung das Empfinden nicht aufhebe, und folglich in diesem Uebel kein Nervensaft mangle.
Es ist nicht wahrscheinlich, daß diese so kostbare Flüßigkeit, die sich nicht so gleich wieder herstellen läßt, gewöhnlichermaßen sieben Stunden Ruhe nöthig haben sollte, und daß wir den Verlast des vorhergehenden Tages den Aügenblik ersetzen könnten, wenn diese Flüßigkeit ihren Weg bis zum äussersten Ende des Nerven durchlaufen ist, da die nützlichen Säfte im menschlichen Körper, theils durch die Schlagadern bis zu deren Endigungen ausge- führt, theils aber von den Blutadern wieder eingesogen, oder wenn sie verrauchen, in die einschluckende Gefässe äufgenommen werden.
Folglich scheint ein Theil wieder eingesogen zu wer- den. Wie aber die allerletzten Nervenfäsergen, die die
Gei-
dAnat. renov. p. 668. Diesem füge noch andere Einwürfe bei. Guilielmi Cockburne oeconomie anim. p. 104. 105. Mangeti in bibl. anat. II. p. 34.
Das Gehirn und die Nerven. X. Buch.
Auf alle dieſe Einwendungen laͤßt ſich am leichteſten ſo viel antworten, daß man ſie gar nicht zugibt. Es be- darf die Ernaͤhrung einen traͤgen und zaͤhern Saft, da- hingegen die Sinnen und die Bewegung eine hoͤchſt be- wegliche Fluͤßigkeit erfordern, die ſich durchaus nicht an die Waͤnde ihres Kanals anhaͤngen muß. Und wir ha- ben auch gezeigt, daß im menſchlichen Koͤrper viele Theile ohne Nerven ſind, welche dennoch eben ſo gut er- naͤhrt werden wollen; hingegen ſind an andern Orten zwar Nerven, aber in ſo geringer Anzahl, daß man von ihnen nimmermehr erwarten kann, daß ſie die ſo groſſe Leber, Miltz oder die Lunge ernaͤhren koͤnnen. Wenn ein Nerve Schaden gelitten, ſo verliehrt das Glied ſeine ganze Brauchbarkeit, und Bewegung, und nun iſt ohne Zweifel von der Feſtigkeit der Faſer dasienige ab- gegangen, welches die Nerven ſelbſt liefern. Es hat auch bereits Bartholin laͤngſt angemerkt d, daß dieſe Schwindung das Empfinden nicht aufhebe, und folglich in dieſem Uebel kein Nervenſaft mangle.
Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß dieſe ſo koſtbare Fluͤßigkeit, die ſich nicht ſo gleich wieder herſtellen laͤßt, gewoͤhnlichermaßen ſieben Stunden Ruhe noͤthig haben ſollte, und daß wir den Verlaſt des vorhergehenden Tages den Auͤgenblik erſetzen koͤnnten, wenn dieſe Fluͤßigkeit ihren Weg bis zum aͤuſſerſten Ende des Nerven durchlaufen iſt, da die nuͤtzlichen Saͤfte im menſchlichen Koͤrper, theils durch die Schlagadern bis zu deren Endigungen ausge- fuͤhrt, theils aber von den Blutadern wieder eingeſogen, oder wenn ſie verrauchen, in die einſchluckende Gefaͤſſe aͤufgenommen werden.
Folglich ſcheint ein Theil wieder eingeſogen zu wer- den. Wie aber die allerletzten Nervenfaͤſergen, die die
Gei-
dAnat. renov. p. 668. Dieſem fuͤge noch andere Einwuͤrfe bei. Guilielmi Cockburne oeconomie anim. p. 104. 105. Mangeti in bibl. anat. II. p. 34.
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Das Gehirn und die Nerven. X. Buch.
Auf alle dieſe Einwendungen laͤßt ſich am leichteſten
ſo viel antworten, daß man ſie gar nicht zugibt. Es be-
darf die Ernaͤhrung einen traͤgen und zaͤhern Saft, da-
hingegen die Sinnen und die Bewegung eine hoͤchſt be-
wegliche Fluͤßigkeit erfordern, die ſich durchaus nicht an
die Waͤnde ihres Kanals anhaͤngen muß. Und wir ha-
ben auch gezeigt, daß im menſchlichen Koͤrper viele
Theile ohne Nerven ſind, welche dennoch eben ſo gut er-
naͤhrt werden wollen; hingegen ſind an andern Orten
zwar Nerven, aber in ſo geringer Anzahl, daß man von
ihnen nimmermehr erwarten kann, daß ſie die ſo groſſe
Leber, Miltz oder die Lunge ernaͤhren koͤnnen. Wenn
ein Nerve Schaden gelitten, ſo verliehrt das Glied ſeine
ganze Brauchbarkeit, und Bewegung, und nun iſt
ohne Zweifel von der Feſtigkeit der Faſer dasienige ab-
gegangen, welches die Nerven ſelbſt liefern. Es hat
auch bereits Bartholin laͤngſt angemerkt d, daß dieſe
Schwindung das Empfinden nicht aufhebe, und folglich
in dieſem Uebel kein Nervenſaft mangle.
Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß dieſe ſo koſtbare
Fluͤßigkeit, die ſich nicht ſo gleich wieder herſtellen laͤßt,
gewoͤhnlichermaßen ſieben Stunden Ruhe noͤthig haben
ſollte, und daß wir den Verlaſt des vorhergehenden Tages
den Auͤgenblik erſetzen koͤnnten, wenn dieſe Fluͤßigkeit ihren
Weg bis zum aͤuſſerſten Ende des Nerven durchlaufen iſt,
da die nuͤtzlichen Saͤfte im menſchlichen Koͤrper, theils
durch die Schlagadern bis zu deren Endigungen ausge-
fuͤhrt, theils aber von den Blutadern wieder eingeſogen,
oder wenn ſie verrauchen, in die einſchluckende Gefaͤſſe
aͤufgenommen werden.
Folglich ſcheint ein Theil wieder eingeſogen zu wer-
den. Wie aber die allerletzten Nervenfaͤſergen, die die
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d Anat. renov. p. 668. Dieſem fuͤge noch andere Einwuͤrfe bei.
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anat. II. p. 34.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 4. Berlin, 1768, S. 638. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende04_1768/674>, abgerufen am 22.11.2024.
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