nur die Zeichen vorstellen, die wir doch selbst durch das Gesicht gelernt haben. Jndessen behalten wir am deut- lichsten, und dauerhaftesten diejenigen Empfindungen, welche in uns durch das Gesicht entstehen (i). Wir träu- men (k) zwar auch von Tönen, doch aber am meisten von Objecten, die uns durch das Gesicht öfters vorgestellt werden. Die Einbildungskraft beschäftigt sich fast einzig und allein mit sichtbaren Dingen. Wer diese Fähigkeit besizzet, kann sich einen abwesenden Freund, Haus und Bäume dergestalt vormahlen, daß er sie in seiner Seele als gegenwärtig sieht, er kann die Sache nach dieser Jdee mit dem Pinsel abschildern (k*), nicht ohne ausdrükkliche Aehnlichkeit, und mit Worten dergestalt beschreiben, daß man sie erkennen kann. Ohne diese Fähigkeit können kei- ne Dichter sein. Cardan konnte wachend alles sehen, was er wollte, wobei doch die Bilder davon vor den Au- gen auf und niederstiegen (l). Ein dergleichen Beispiel giebt der vortrefliche Bonnet(m). Es scheint aber das Gesichte an den deutlichsten und kleinsten Bildern einen Vorzug zu haben (n), indem dasjenige ein sehr kleines Theilchen vom Nerven ist, das von den gesehenen Bil- dern getroffen wird, und es liegen die Theilchen dieses Bildes in einer gewissen Ordnung, dergleichen in andern Sinnen nicht vorkommt. Man hält die Empfindungen des Gehörs für verwirrter, weil sich viele Töne in einen einzigen vereinigen (o).
§. 6. Das Gedächtnis.
Folglich erhalten sich im Menschen, Begriffe, welche er mit Aufmerksamkeit angesehen: und welche ihn heftig
rühren
(i)[Spaltenumbruch]Conf. HARTLEY pag. 210. 57. 58. WOLF psychol. Empir. p. 60. die dahin gehörigen Fasern sind beweglicher, vom öftern Ge- brauche, BONNET p. 425.
(k)BONNET ibid.
(k*)MORELLUS unser Lands- [Spaltenumbruch]
mann zeichnete alle Käiserköpfe der- gestalt ab, daß man sie erkennen konnte.
(l)Subtil. p. 314.
(m)pag. 427.
(n)pag. 477. 478.
(o)BERKLEY p. 339.
I. Abſchnitt. Der Verſtand.
nur die Zeichen vorſtellen, die wir doch ſelbſt durch das Geſicht gelernt haben. Jndeſſen behalten wir am deut- lichſten, und dauerhafteſten diejenigen Empfindungen, welche in uns durch das Geſicht entſtehen (i). Wir traͤu- men (k) zwar auch von Toͤnen, doch aber am meiſten von Objecten, die uns durch das Geſicht oͤfters vorgeſtellt werden. Die Einbildungskraft beſchaͤftigt ſich faſt einzig und allein mit ſichtbaren Dingen. Wer dieſe Faͤhigkeit beſizzet, kann ſich einen abweſenden Freund, Haus und Baͤume dergeſtalt vormahlen, daß er ſie in ſeiner Seele als gegenwaͤrtig ſieht, er kann die Sache nach dieſer Jdee mit dem Pinſel abſchildern (k*), nicht ohne ausdruͤkkliche Aehnlichkeit, und mit Worten dergeſtalt beſchreiben, daß man ſie erkennen kann. Ohne dieſe Faͤhigkeit koͤnnen kei- ne Dichter ſein. Cardan konnte wachend alles ſehen, was er wollte, wobei doch die Bilder davon vor den Au- gen auf und niederſtiegen (l). Ein dergleichen Beiſpiel giebt der vortrefliche Bonnet(m). Es ſcheint aber das Geſichte an den deutlichſten und kleinſten Bildern einen Vorzug zu haben (n), indem dasjenige ein ſehr kleines Theilchen vom Nerven iſt, das von den geſehenen Bil- dern getroffen wird, und es liegen die Theilchen dieſes Bildes in einer gewiſſen Ordnung, dergleichen in andern Sinnen nicht vorkommt. Man haͤlt die Empfindungen des Gehoͤrs fuͤr verwirrter, weil ſich viele Toͤne in einen einzigen vereinigen (o).
§. 6. Das Gedaͤchtnis.
Folglich erhalten ſich im Menſchen, Begriffe, welche er mit Aufmerkſamkeit angeſehen: und welche ihn heftig
ruͤhren
(i)[Spaltenumbruch]Conf. HARTLEY pag. 210. 57. 58. WOLF pſychol. Empir. p. 60. die dahin gehoͤrigen Faſern ſind beweglicher, vom oͤftern Ge- brauche, BONNET p. 425.
(k)BONNET ibid.
(k*)MORELLUS unſer Lands- [Spaltenumbruch]
mann zeichnete alle Kaͤiſerkoͤpfe der- geſtalt ab, daß man ſie erkennen konnte.
(l)Subtil. p. 314.
(m)pag. 427.
(n)pag. 477. 478.
(o)BERKLEY p. 339.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f1073"n="1055"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">I.</hi> Abſchnitt. Der Verſtand.</hi></fw><lb/>
nur die Zeichen vorſtellen, die wir doch ſelbſt durch das<lb/>
Geſicht gelernt haben. Jndeſſen behalten wir am deut-<lb/>
lichſten, und dauerhafteſten diejenigen Empfindungen,<lb/>
welche in uns durch das Geſicht entſtehen <noteplace="foot"n="(i)"><cb/><hirendition="#aq">Conf. HARTLEY pag. 210.<lb/>
57. 58. WOLF pſychol. Empir.<lb/>
p.</hi> 60. die dahin gehoͤrigen Faſern<lb/>ſind beweglicher, vom oͤftern Ge-<lb/>
brauche, <hirendition="#aq">BONNET p.</hi> 425.</note>. Wir traͤu-<lb/>
men <noteplace="foot"n="(k)"><hirendition="#aq">BONNET ibid.</hi></note> zwar auch von Toͤnen, doch aber am meiſten<lb/>
von Objecten, die uns durch das Geſicht oͤfters vorgeſtellt<lb/>
werden. Die Einbildungskraft beſchaͤftigt ſich faſt einzig<lb/>
und allein mit ſichtbaren Dingen. Wer dieſe Faͤhigkeit<lb/>
beſizzet, kann ſich einen abweſenden Freund, Haus und<lb/>
Baͤume dergeſtalt vormahlen, daß er ſie in ſeiner Seele<lb/>
als gegenwaͤrtig ſieht, er kann die Sache nach dieſer Jdee<lb/>
mit dem Pinſel abſchildern <noteplace="foot"n="(k*)"><hirendition="#aq">MORELLUS</hi> unſer Lands-<lb/><cb/>
mann zeichnete alle Kaͤiſerkoͤpfe der-<lb/>
geſtalt ab, daß man ſie erkennen<lb/>
konnte.</note>, nicht ohne ausdruͤkkliche<lb/>
Aehnlichkeit, und mit Worten dergeſtalt beſchreiben, daß<lb/>
man ſie erkennen kann. Ohne dieſe Faͤhigkeit koͤnnen kei-<lb/>
ne Dichter ſein. <hirendition="#fr">Cardan</hi> konnte wachend alles ſehen,<lb/>
was er wollte, wobei doch die Bilder davon vor den Au-<lb/>
gen auf und niederſtiegen <noteplace="foot"n="(l)"><hirendition="#aq">Subtil. p.</hi> 314.</note>. Ein dergleichen Beiſpiel<lb/>
giebt der vortrefliche <hirendition="#fr">Bonnet</hi><noteplace="foot"n="(m)"><hirendition="#aq">pag.</hi> 427.</note>. Es ſcheint aber das<lb/>
Geſichte an den deutlichſten und kleinſten Bildern einen<lb/>
Vorzug zu haben <noteplace="foot"n="(n)"><hirendition="#aq">pag.</hi> 477. 478.</note>, indem dasjenige ein ſehr kleines<lb/>
Theilchen vom Nerven iſt, das von den geſehenen Bil-<lb/>
dern getroffen wird, und es liegen die Theilchen dieſes<lb/>
Bildes in einer gewiſſen Ordnung, dergleichen in andern<lb/>
Sinnen nicht vorkommt. Man haͤlt die Empfindungen<lb/>
des Gehoͤrs fuͤr verwirrter, weil ſich viele Toͤne in einen<lb/>
einzigen vereinigen <noteplace="foot"n="(o)"><hirendition="#aq">BERKLEY p.</hi> 339.</note>.</p></div><lb/><divn="3"><head>§. 6.<lb/>
Das Gedaͤchtnis.</head><lb/><p>Folglich erhalten ſich im Menſchen, Begriffe, welche<lb/>
er mit Aufmerkſamkeit angeſehen: und welche ihn heftig<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ruͤhren</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[1055/1073]
I. Abſchnitt. Der Verſtand.
nur die Zeichen vorſtellen, die wir doch ſelbſt durch das
Geſicht gelernt haben. Jndeſſen behalten wir am deut-
lichſten, und dauerhafteſten diejenigen Empfindungen,
welche in uns durch das Geſicht entſtehen (i). Wir traͤu-
men (k) zwar auch von Toͤnen, doch aber am meiſten
von Objecten, die uns durch das Geſicht oͤfters vorgeſtellt
werden. Die Einbildungskraft beſchaͤftigt ſich faſt einzig
und allein mit ſichtbaren Dingen. Wer dieſe Faͤhigkeit
beſizzet, kann ſich einen abweſenden Freund, Haus und
Baͤume dergeſtalt vormahlen, daß er ſie in ſeiner Seele
als gegenwaͤrtig ſieht, er kann die Sache nach dieſer Jdee
mit dem Pinſel abſchildern (k*), nicht ohne ausdruͤkkliche
Aehnlichkeit, und mit Worten dergeſtalt beſchreiben, daß
man ſie erkennen kann. Ohne dieſe Faͤhigkeit koͤnnen kei-
ne Dichter ſein. Cardan konnte wachend alles ſehen,
was er wollte, wobei doch die Bilder davon vor den Au-
gen auf und niederſtiegen (l). Ein dergleichen Beiſpiel
giebt der vortrefliche Bonnet (m). Es ſcheint aber das
Geſichte an den deutlichſten und kleinſten Bildern einen
Vorzug zu haben (n), indem dasjenige ein ſehr kleines
Theilchen vom Nerven iſt, das von den geſehenen Bil-
dern getroffen wird, und es liegen die Theilchen dieſes
Bildes in einer gewiſſen Ordnung, dergleichen in andern
Sinnen nicht vorkommt. Man haͤlt die Empfindungen
des Gehoͤrs fuͤr verwirrter, weil ſich viele Toͤne in einen
einzigen vereinigen (o).
§. 6.
Das Gedaͤchtnis.
Folglich erhalten ſich im Menſchen, Begriffe, welche
er mit Aufmerkſamkeit angeſehen: und welche ihn heftig
ruͤhren
(i)
Conf. HARTLEY pag. 210.
57. 58. WOLF pſychol. Empir.
p. 60. die dahin gehoͤrigen Faſern
ſind beweglicher, vom oͤftern Ge-
brauche, BONNET p. 425.
(k) BONNET ibid.
(k*) MORELLUS unſer Lands-
mann zeichnete alle Kaͤiſerkoͤpfe der-
geſtalt ab, daß man ſie erkennen
konnte.
(l) Subtil. p. 314.
(m) pag. 427.
(n) pag. 477. 478.
(o) BERKLEY p. 339.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1055. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1073>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.