Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Sehen. XVI. Buch.
habe auch die Probe gemacht, und bin dadurch überzeu-
get worden, daß ich mich nur eines Auges bediene, ob
ich sie gleich beide offen habe. Jch halte mir eine Nadel
vor das rechte Auge, ich schliesse dieses zu, und ich sehe
diese Nadel mit dem linken Auge. Plözzlich mache ich
das linke Auge zu, und öfne das rechte, so verrichtet die
Nadel einen deutlichen Sprung auf die linke Hand. Jch
öfne hierauf beide Augen wieder, so ändert sich die Laage
der Nadel nicht im geringsten, und diese Laage müste
doch, in den Raum mitten zwischen den Augen überge-
gangen sein, wofern ich mich der beiden convergirenden
Achsen der Augen zum Sehen bediente.

Darum aber sehen wir doch niemals (q) mit beiden
Augen, denn wir sehen mit dem linken Auge dasjenige
(r), was das rechte Auge nicht sehen kann, und folglich
nehmen wir mit beiden Augen, wie man sagt, ein grösse-
res Feld ein, wir entdekken an einerlei Object mehrere
Theile und mehrere Objecte, wir urtheilen von der Di-
stanz besser (s), und sehen endlich zwar nicht doppelt so
hell (t), aber doch etwas heller (u). Daher sagen einige
berühmte Männer unserer Zeit, daß sie sich beider Au-
gen zum Sehen bedienen (x).

Was mich betrift so bediene ich mich offenbar eines
einzigen Auges zum Lesen, Schreiben, oder zu den Ver-
grösserungsgläsern, und ich könnte mich nicht des linken
bedienen, indem dasselbe von der alten Ruhe so weichlich
geworden, daß es von der geringsten Arbeit angegriffen

wird.
(q) [Spaltenumbruch] Bisweilen sehen wir mit bei-
den Augen. Idem. p. 423.
(r) IURIN p. 41. Mit beiden
Augen sahe jemand doppelt, und
mit einem einzigen sahe er recht.
Fichet. de FLECHY obs. p. 129.
(s) Le CAT pag. 474. DES
MOURS Mem. d' Edimb. I. p. 365.
LEVERT art. de l'accouch. p.
277.
(t) [Spaltenumbruch] IURIN, PORTERFIELD
T. I. p. 71. 101. BUFFON Mem.
de 1743. pag. 240. Add. CHERU-
BIN visparfaite Paris
1677.
(u) PORTERFIELD I. pag. 73.
Add. LEVRET. art. d' accouch. l. c.
(x) Add. WEDEL de visione
mit gedoppelten Augen. NOLLET
lecons de phys. T. V. pag. 497.
le CAT p.
425.

Das Sehen. XVI. Buch.
habe auch die Probe gemacht, und bin dadurch uͤberzeu-
get worden, daß ich mich nur eines Auges bediene, ob
ich ſie gleich beide offen habe. Jch halte mir eine Nadel
vor das rechte Auge, ich ſchlieſſe dieſes zu, und ich ſehe
dieſe Nadel mit dem linken Auge. Ploͤzzlich mache ich
das linke Auge zu, und oͤfne das rechte, ſo verrichtet die
Nadel einen deutlichen Sprung auf die linke Hand. Jch
oͤfne hierauf beide Augen wieder, ſo aͤndert ſich die Laage
der Nadel nicht im geringſten, und dieſe Laage muͤſte
doch, in den Raum mitten zwiſchen den Augen uͤberge-
gangen ſein, wofern ich mich der beiden convergirenden
Achſen der Augen zum Sehen bediente.

Darum aber ſehen wir doch niemals (q) mit beiden
Augen, denn wir ſehen mit dem linken Auge dasjenige
(r), was das rechte Auge nicht ſehen kann, und folglich
nehmen wir mit beiden Augen, wie man ſagt, ein groͤſſe-
res Feld ein, wir entdekken an einerlei Object mehrere
Theile und mehrere Objecte, wir urtheilen von der Di-
ſtanz beſſer (s), und ſehen endlich zwar nicht doppelt ſo
hell (t), aber doch etwas heller (u). Daher ſagen einige
beruͤhmte Maͤnner unſerer Zeit, daß ſie ſich beider Au-
gen zum Sehen bedienen (x).

Was mich betrift ſo bediene ich mich offenbar eines
einzigen Auges zum Leſen, Schreiben, oder zu den Ver-
groͤſſerungsglaͤſern, und ich koͤnnte mich nicht des linken
bedienen, indem daſſelbe von der alten Ruhe ſo weichlich
geworden, daß es von der geringſten Arbeit angegriffen

wird.
(q) [Spaltenumbruch] Bisweilen ſehen wir mit bei-
den Augen. Idem. p. 423.
(r) IURIN p. 41. Mit beiden
Augen ſahe jemand doppelt, und
mit einem einzigen ſahe er recht.
Fichet. de FLECHY obſ. p. 129.
(s) Le CAT pag. 474. DES
MOURS Mém. d’ Edimb. I. p. 365.
LEVERT art. de l’accouch. p.
277.
(t) [Spaltenumbruch] IURIN, PORTERFIELD
T. I. p. 71. 101. BUFFON Mém.
de 1743. pag. 240. Add. CHERU-
BIN visparfaite Paris
1677.
(u) PORTERFIELD I. pag. 73.
Add. LEVRET. art. d’ accouch. l. c.
(x) Add. WEDEL de viſione
mit gedoppelten Augen. NOLLET
lecons de phyſ. T. V. pag. 497.
le CAT p.
425.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0992" n="974"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das Sehen. <hi rendition="#aq">XVI.</hi> Buch.</hi></fw><lb/>
habe auch die Probe gemacht, und bin dadurch u&#x0364;berzeu-<lb/>
get worden, daß ich mich nur eines Auges bediene, ob<lb/>
ich &#x017F;ie gleich beide offen habe. Jch halte mir eine Nadel<lb/>
vor das rechte Auge, ich &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;es zu, und ich &#x017F;ehe<lb/>
die&#x017F;e Nadel mit dem linken Auge. Plo&#x0364;zzlich mache ich<lb/>
das linke Auge zu, und o&#x0364;fne das rechte, &#x017F;o verrichtet die<lb/>
Nadel einen deutlichen Sprung auf die linke Hand. Jch<lb/>
o&#x0364;fne hierauf beide Augen wieder, &#x017F;o a&#x0364;ndert &#x017F;ich die Laage<lb/>
der Nadel nicht im gering&#x017F;ten, und die&#x017F;e Laage mu&#x0364;&#x017F;te<lb/>
doch, in den Raum mitten zwi&#x017F;chen den Augen u&#x0364;berge-<lb/>
gangen &#x017F;ein, wofern ich mich der beiden convergirenden<lb/>
Ach&#x017F;en der Augen zum Sehen bediente.</p><lb/>
              <p>Darum aber &#x017F;ehen wir doch niemals <note place="foot" n="(q)"><cb/>
Bisweilen &#x017F;ehen wir mit bei-<lb/>
den Augen. <hi rendition="#aq">Idem. p.</hi> 423.</note> mit beiden<lb/>
Augen, denn wir &#x017F;ehen mit dem linken Auge dasjenige<lb/><note place="foot" n="(r)"><hi rendition="#aq">IURIN p.</hi> 41. Mit beiden<lb/>
Augen &#x017F;ahe jemand doppelt, und<lb/>
mit einem einzigen &#x017F;ahe er recht.<lb/><hi rendition="#aq">Fichet. de FLECHY ob&#x017F;. p.</hi> 129.</note>, was das rechte Auge nicht &#x017F;ehen kann, und folglich<lb/>
nehmen wir mit beiden Augen, wie man &#x017F;agt, ein gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e-<lb/>
res <hi rendition="#fr">Feld</hi> ein, wir entdekken an einerlei Object mehrere<lb/>
Theile und mehrere Objecte, wir urtheilen von der Di-<lb/>
&#x017F;tanz be&#x017F;&#x017F;er <note place="foot" n="(s)"><hi rendition="#aq">Le <hi rendition="#g">CAT</hi> pag. 474. DES<lb/>
MOURS Mém. d&#x2019; Edimb. I. p. 365.<lb/>
LEVERT art. de l&#x2019;accouch. p.</hi> 277.</note>, und &#x017F;ehen endlich zwar nicht doppelt &#x017F;o<lb/>
hell <note place="foot" n="(t)"><cb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">IURIN,</hi> PORTERFIELD<lb/>
T. I. p. 71. 101. BUFFON Mém.<lb/>
de 1743. pag. 240. Add. CHERU-<lb/>
BIN visparfaite Paris</hi> 1677.</note>, aber doch etwas heller <note place="foot" n="(u)"><hi rendition="#aq">PORTERFIELD I. pag. 73.<lb/>
Add. LEVRET. art. d&#x2019; accouch. l. c.</hi></note>. Daher &#x017F;agen einige<lb/>
beru&#x0364;hmte Ma&#x0364;nner un&#x017F;erer Zeit, daß &#x017F;ie &#x017F;ich beider Au-<lb/>
gen zum Sehen bedienen <note place="foot" n="(x)"><hi rendition="#aq">Add. <hi rendition="#g">WEDEL</hi> de vi&#x017F;ione</hi><lb/>
mit gedoppelten Augen. <hi rendition="#aq">NOLLET<lb/>
lecons de phy&#x017F;. T. V. pag. 497.<lb/>
le CAT p.</hi> 425.</note>.</p><lb/>
              <p>Was mich betrift &#x017F;o bediene ich mich offenbar eines<lb/>
einzigen Auges zum Le&#x017F;en, Schreiben, oder zu den Ver-<lb/>
gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;erungsgla&#x0364;&#x017F;ern, und ich ko&#x0364;nnte mich nicht des linken<lb/>
bedienen, indem da&#x017F;&#x017F;elbe von der alten Ruhe &#x017F;o weichlich<lb/>
geworden, daß es von der gering&#x017F;ten Arbeit angegriffen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wird.</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[974/0992] Das Sehen. XVI. Buch. habe auch die Probe gemacht, und bin dadurch uͤberzeu- get worden, daß ich mich nur eines Auges bediene, ob ich ſie gleich beide offen habe. Jch halte mir eine Nadel vor das rechte Auge, ich ſchlieſſe dieſes zu, und ich ſehe dieſe Nadel mit dem linken Auge. Ploͤzzlich mache ich das linke Auge zu, und oͤfne das rechte, ſo verrichtet die Nadel einen deutlichen Sprung auf die linke Hand. Jch oͤfne hierauf beide Augen wieder, ſo aͤndert ſich die Laage der Nadel nicht im geringſten, und dieſe Laage muͤſte doch, in den Raum mitten zwiſchen den Augen uͤberge- gangen ſein, wofern ich mich der beiden convergirenden Achſen der Augen zum Sehen bediente. Darum aber ſehen wir doch niemals (q) mit beiden Augen, denn wir ſehen mit dem linken Auge dasjenige (r), was das rechte Auge nicht ſehen kann, und folglich nehmen wir mit beiden Augen, wie man ſagt, ein groͤſſe- res Feld ein, wir entdekken an einerlei Object mehrere Theile und mehrere Objecte, wir urtheilen von der Di- ſtanz beſſer (s), und ſehen endlich zwar nicht doppelt ſo hell (t), aber doch etwas heller (u). Daher ſagen einige beruͤhmte Maͤnner unſerer Zeit, daß ſie ſich beider Au- gen zum Sehen bedienen (x). Was mich betrift ſo bediene ich mich offenbar eines einzigen Auges zum Leſen, Schreiben, oder zu den Ver- groͤſſerungsglaͤſern, und ich koͤnnte mich nicht des linken bedienen, indem daſſelbe von der alten Ruhe ſo weichlich geworden, daß es von der geringſten Arbeit angegriffen wird. (q) Bisweilen ſehen wir mit bei- den Augen. Idem. p. 423. (r) IURIN p. 41. Mit beiden Augen ſahe jemand doppelt, und mit einem einzigen ſahe er recht. Fichet. de FLECHY obſ. p. 129. (s) Le CAT pag. 474. DES MOURS Mém. d’ Edimb. I. p. 365. LEVERT art. de l’accouch. p. 277. (t) IURIN, PORTERFIELD T. I. p. 71. 101. BUFFON Mém. de 1743. pag. 240. Add. CHERU- BIN visparfaite Paris 1677. (u) PORTERFIELD I. pag. 73. Add. LEVRET. art. d’ accouch. l. c. (x) Add. WEDEL de viſione mit gedoppelten Augen. NOLLET lecons de phyſ. T. V. pag. 497. le CAT p. 425.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/992
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 974. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/992>, abgerufen am 22.11.2024.