Halm, Friedrich [d. i. Eligius Franz Joseph von Münch Bellinghausen]: Die Marzipan-Lise. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–70. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.in dumpfer Abspannung des Geistes, in gänzlicher Erschöpfung ihrer Kräfte immer fühlbarer seine Rechte auf sie geltend. Bleierne Schwere lagerte sich auf ihre Glieder; bald von Frost geschüttelt, bald in Fieberhitze glühend, vermochte sie nicht mehr die Wucht des heißen, von dumpfem Schmerz wie mit einem Eisenringe umfangenen Kopfes aufrechtzuhalten, und erschöpft und leidend wie sie war, streckte sie sich auf ihr Lager, um in erquickender Ruhe neue Kräfte zu sammeln. Dort lag sie stumpf und still, die zuckenden Hände über die Brust gefaltet, und vor ihren halbgeschlossenen Augen zogen in langer, buntverworrener Reihe die Bilder ihres Lebens schattenhaft vorüber. Hier lächelten die Spiele der Kindheit sie an, dort saß sie, eine emsige Schülerin, an Ferencz' Seite; auch Antal's Züge sah sie lauernd durchs Fenster hereingrinsen, wie damals, als Ferencz zum ersten Male die Liebeglühende umschlang; dann vernahm sie Herrn Steidler's Stimme, die von der Marzipan-Lise erzählte, das Aufstöhnen Ferencz' und das Drohen und Schelten des Vaters, und dann -- dann ward es trüb und dunkel vor ihren Augen, schwarz wie die Nacht, in der sie dem Vaterhause den Rücken kehren sollte, und finster, wie die Zukunft, der sie entgegenging. Viele Stunden mochte sie in fieberhaftem Halbschlummer dagelegen haben, als von der Stadt her der Glockenschlag Mitternacht verkündete und sie gebieterisch ins Leben, in die Wirklichkeit zurückrief. Sie raffte sich mit der Entschlossenheit, die alle Erschöpfung überwindet, in dumpfer Abspannung des Geistes, in gänzlicher Erschöpfung ihrer Kräfte immer fühlbarer seine Rechte auf sie geltend. Bleierne Schwere lagerte sich auf ihre Glieder; bald von Frost geschüttelt, bald in Fieberhitze glühend, vermochte sie nicht mehr die Wucht des heißen, von dumpfem Schmerz wie mit einem Eisenringe umfangenen Kopfes aufrechtzuhalten, und erschöpft und leidend wie sie war, streckte sie sich auf ihr Lager, um in erquickender Ruhe neue Kräfte zu sammeln. Dort lag sie stumpf und still, die zuckenden Hände über die Brust gefaltet, und vor ihren halbgeschlossenen Augen zogen in langer, buntverworrener Reihe die Bilder ihres Lebens schattenhaft vorüber. Hier lächelten die Spiele der Kindheit sie an, dort saß sie, eine emsige Schülerin, an Ferencz' Seite; auch Antal's Züge sah sie lauernd durchs Fenster hereingrinsen, wie damals, als Ferencz zum ersten Male die Liebeglühende umschlang; dann vernahm sie Herrn Steidler's Stimme, die von der Marzipan-Lise erzählte, das Aufstöhnen Ferencz' und das Drohen und Schelten des Vaters, und dann — dann ward es trüb und dunkel vor ihren Augen, schwarz wie die Nacht, in der sie dem Vaterhause den Rücken kehren sollte, und finster, wie die Zukunft, der sie entgegenging. Viele Stunden mochte sie in fieberhaftem Halbschlummer dagelegen haben, als von der Stadt her der Glockenschlag Mitternacht verkündete und sie gebieterisch ins Leben, in die Wirklichkeit zurückrief. Sie raffte sich mit der Entschlossenheit, die alle Erschöpfung überwindet, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="0"> <p><pb facs="#f0062"/> in dumpfer Abspannung des Geistes, in gänzlicher Erschöpfung ihrer Kräfte immer fühlbarer seine Rechte auf sie geltend. Bleierne Schwere lagerte sich auf ihre Glieder; bald von Frost geschüttelt, bald in Fieberhitze glühend, vermochte sie nicht mehr die Wucht des heißen, von dumpfem Schmerz wie mit einem Eisenringe umfangenen Kopfes aufrechtzuhalten, und erschöpft und leidend wie sie war, streckte sie sich auf ihr Lager, um in erquickender Ruhe neue Kräfte zu sammeln. Dort lag sie stumpf und still, die zuckenden Hände über die Brust gefaltet, und vor ihren halbgeschlossenen Augen zogen in langer, buntverworrener Reihe die Bilder ihres Lebens schattenhaft vorüber. Hier lächelten die Spiele der Kindheit sie an, dort saß sie, eine emsige Schülerin, an Ferencz' Seite; auch Antal's Züge sah sie lauernd durchs Fenster hereingrinsen, wie damals, als Ferencz zum ersten Male die Liebeglühende umschlang; dann vernahm sie Herrn Steidler's Stimme, die von der Marzipan-Lise erzählte, das Aufstöhnen Ferencz' und das Drohen und Schelten des Vaters, und dann — dann ward es trüb und dunkel vor ihren Augen, schwarz wie die Nacht, in der sie dem Vaterhause den Rücken kehren sollte, und finster, wie die Zukunft, der sie entgegenging.</p><lb/> <p>Viele Stunden mochte sie in fieberhaftem Halbschlummer dagelegen haben, als von der Stadt her der Glockenschlag Mitternacht verkündete und sie gebieterisch ins Leben, in die Wirklichkeit zurückrief. Sie raffte sich mit der Entschlossenheit, die alle Erschöpfung überwindet,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0062]
in dumpfer Abspannung des Geistes, in gänzlicher Erschöpfung ihrer Kräfte immer fühlbarer seine Rechte auf sie geltend. Bleierne Schwere lagerte sich auf ihre Glieder; bald von Frost geschüttelt, bald in Fieberhitze glühend, vermochte sie nicht mehr die Wucht des heißen, von dumpfem Schmerz wie mit einem Eisenringe umfangenen Kopfes aufrechtzuhalten, und erschöpft und leidend wie sie war, streckte sie sich auf ihr Lager, um in erquickender Ruhe neue Kräfte zu sammeln. Dort lag sie stumpf und still, die zuckenden Hände über die Brust gefaltet, und vor ihren halbgeschlossenen Augen zogen in langer, buntverworrener Reihe die Bilder ihres Lebens schattenhaft vorüber. Hier lächelten die Spiele der Kindheit sie an, dort saß sie, eine emsige Schülerin, an Ferencz' Seite; auch Antal's Züge sah sie lauernd durchs Fenster hereingrinsen, wie damals, als Ferencz zum ersten Male die Liebeglühende umschlang; dann vernahm sie Herrn Steidler's Stimme, die von der Marzipan-Lise erzählte, das Aufstöhnen Ferencz' und das Drohen und Schelten des Vaters, und dann — dann ward es trüb und dunkel vor ihren Augen, schwarz wie die Nacht, in der sie dem Vaterhause den Rücken kehren sollte, und finster, wie die Zukunft, der sie entgegenging.
Viele Stunden mochte sie in fieberhaftem Halbschlummer dagelegen haben, als von der Stadt her der Glockenschlag Mitternacht verkündete und sie gebieterisch ins Leben, in die Wirklichkeit zurückrief. Sie raffte sich mit der Entschlossenheit, die alle Erschöpfung überwindet,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T10:52:38Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T10:52:38Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |