Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

Die ersten fünf Jahre hatte er den Weg
von Schön-Schornstein, einer Kolonie an der
Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen
müssen. Eines schönen Tages war er dann
in Begleitung eines schmächtigen und kränklich
aussehenden Frauenzimmers erschienen, die, wie
die Leute meinten, zu seiner herkulischen Gestalt
wenig gepaßt hatte. Und wiederum eines schönen
Sonntag nachmittags reichte er dieser selben
Person am Altare der Kirche feierlich die Hand
zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre nun saß
das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der
Kirchenbank; zwei Jahre blickte ihr hohlwangiges,
feines Gesicht neben seinem vom Wetter ge¬
bräumten in das uralte Gesangbuch --; und
Plötzlich saß der Bahnwärter wieder allein wie
zuvor.

An einem der vorangegangenen Wochentage
hatte die Sterbeglocke geläutet, das war das
Ganze.

An dem Wärter hatte man, wie die Leute
versicherten, kaum eine Veränderung wahr¬
genommen
. Die Knöpfe seiner sauberen Sonn¬
tagsuniform waren so blank geputzt als je zu¬
vor, seine roten Haare so wohl geölt und mili¬
tärisch gescheitelt wie immer, nur daß er den

Die erſten fünf Jahre hatte er den Weg
von Schön-Schornſtein, einer Kolonie an der
Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen
müſſen. Eines ſchönen Tages war er dann
in Begleitung eines ſchmächtigen und kränklich
ausſehenden Frauenzimmers erſchienen, die, wie
die Leute meinten, zu ſeiner herkuliſchen Geſtalt
wenig gepaßt hatte. Und wiederum eines ſchönen
Sonntag nachmittags reichte er dieſer ſelben
Perſon am Altare der Kirche feierlich die Hand
zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre nun ſaß
das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der
Kirchenbank; zwei Jahre blickte ihr hohlwangiges,
feines Geſicht neben ſeinem vom Wetter ge¬
bräumten in das uralte Geſangbuch —; und
Plötzlich ſaß der Bahnwärter wieder allein wie
zuvor.

An einem der vorangegangenen Wochentage
hatte die Sterbeglocke geläutet, das war das
Ganze.

An dem Wärter hatte man, wie die Leute
verſicherten, kaum eine Veränderung wahr¬
genommen
. Die Knöpfe ſeiner ſauberen Sonn¬
tagsuniform waren ſo blank geputzt als je zu¬
vor, ſeine roten Haare ſo wohl geölt und mili¬
täriſch geſcheitelt wie immer, nur daß er den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0014" n="2"/>
          <p>Die er&#x017F;ten fünf Jahre hatte er den Weg<lb/>
von Schön-Schorn&#x017F;tein, einer Kolonie an der<lb/>
Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen<lb/>&#x017F;&#x017F;en. Eines &#x017F;chönen Tages war er dann<lb/>
in Begleitung eines &#x017F;chmächtigen und kränklich<lb/>
aus&#x017F;ehenden Frauenzimmers er&#x017F;chienen, die, wie<lb/>
die Leute meinten, zu &#x017F;einer herkuli&#x017F;chen Ge&#x017F;talt<lb/>
wenig gepaßt hatte. Und wiederum eines &#x017F;chönen<lb/>
Sonntag nachmittags reichte er die&#x017F;er &#x017F;elben<lb/>
Per&#x017F;on am Altare der Kirche feierlich die Hand<lb/>
zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre nun &#x017F;<lb/>
das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der<lb/>
Kirchenbank; zwei Jahre blickte ihr hohlwangiges,<lb/>
feines Ge&#x017F;icht neben &#x017F;einem vom Wetter ge¬<lb/>
bräumten in das uralte Ge&#x017F;angbuch &#x2014;; und<lb/>
Plötzlich &#x017F;aß der Bahnwärter wieder allein wie<lb/>
zuvor.</p><lb/>
          <p>An einem der vorangegangenen Wochentage<lb/>
hatte die Sterbeglocke geläutet, das war das<lb/>
Ganze.</p><lb/>
          <p>An dem Wärter hatte man, wie die Leute<lb/>
ver&#x017F;icherten, kaum eine Veränderung <choice><sic>wahr.<lb/>
genommen</sic><corr>wahr¬<lb/>
genommen</corr></choice>. Die Knöpfe &#x017F;einer &#x017F;auberen Sonn¬<lb/>
tagsuniform waren &#x017F;o blank geputzt als je zu¬<lb/>
vor, &#x017F;eine roten Haare &#x017F;o wohl geölt und mili¬<lb/>
täri&#x017F;ch ge&#x017F;cheitelt wie immer, nur daß er den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0014] Die erſten fünf Jahre hatte er den Weg von Schön-Schornſtein, einer Kolonie an der Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen müſſen. Eines ſchönen Tages war er dann in Begleitung eines ſchmächtigen und kränklich ausſehenden Frauenzimmers erſchienen, die, wie die Leute meinten, zu ſeiner herkuliſchen Geſtalt wenig gepaßt hatte. Und wiederum eines ſchönen Sonntag nachmittags reichte er dieſer ſelben Perſon am Altare der Kirche feierlich die Hand zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre nun ſaß das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der Kirchenbank; zwei Jahre blickte ihr hohlwangiges, feines Geſicht neben ſeinem vom Wetter ge¬ bräumten in das uralte Geſangbuch —; und Plötzlich ſaß der Bahnwärter wieder allein wie zuvor. An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet, das war das Ganze. An dem Wärter hatte man, wie die Leute verſicherten, kaum eine Veränderung wahr¬ genommen. Die Knöpfe ſeiner ſauberen Sonn¬ tagsuniform waren ſo blank geputzt als je zu¬ vor, ſeine roten Haare ſo wohl geölt und mili¬ täriſch geſcheitelt wie immer, nur daß er den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/14
Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/14>, abgerufen am 23.11.2024.