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Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

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scheuer Freude zur Thüre hinaus. Thiel ent¬
kleidete sich, ging zu Bett und entschlief, nach¬
dem er geraume Zeit gedankenvoll die niedrige
und rissige Stubendecke angestarrt hatte. Gegen
12 Uhr mittags erwachte er, kleidete sich an
und ging, während seine Frau in ihrer lärmen¬
den Weise das Mittagbrot bereitete, hinaus auf
die Straße, wo er Tobiaschen sogleich aufgriff,
der mit den Fingern Kalk aus einem Loche in
der Wand kratzte und in den Mund steckte.
Der Wärter nahm ihn bei der Hand und ging
mit ihm an den etwa acht Häuschen des Ortes
vorüber bis hinunter zur Spree, die schwarz
und glasig zwischen schwach belaubten Pappeln
lag. Dicht am Rande des Wassers befand sich
ein Granitblock, auf welchen Thiel sich nieder¬
ließ.

Der ganze Ort hatte sich gewöhnt, ihn bei
nur irgend erträglichem Wetter an dieser Stelle
zu erblicken, die Kinder besonders hingen an ihm,
nannten ihn "Vater Thiel" und wurden von
ihm besonders in mancherlei Spielen unterrichtet,
deren er sich aus seiner Jugendzeit erinnerte.
Das Beste jedoch von dem Inhalt seiner Er¬
innerungen war für Tobias, er schnitzelte ihm
Fitschepfeile, die höher flogen wie die aller an¬

ſcheuer Freude zur Thüre hinaus. Thiel ent¬
kleidete ſich, ging zu Bett und entſchlief, nach¬
dem er geraume Zeit gedankenvoll die niedrige
und riſſige Stubendecke angeſtarrt hatte. Gegen
12 Uhr mittags erwachte er, kleidete ſich an
und ging, während ſeine Frau in ihrer lärmen¬
den Weiſe das Mittagbrot bereitete, hinaus auf
die Straße, wo er Tobiaschen ſogleich aufgriff,
der mit den Fingern Kalk aus einem Loche in
der Wand kratzte und in den Mund ſteckte.
Der Wärter nahm ihn bei der Hand und ging
mit ihm an den etwa acht Häuschen des Ortes
vorüber bis hinunter zur Spree, die ſchwarz
und glaſig zwiſchen ſchwach belaubten Pappeln
lag. Dicht am Rande des Waſſers befand ſich
ein Granitblock, auf welchen Thiel ſich nieder¬
ließ.

Der ganze Ort hatte ſich gewöhnt, ihn bei
nur irgend erträglichem Wetter an dieſer Stelle
zu erblicken, die Kinder beſonders hingen an ihm,
nannten ihn „Vater Thiel“ und wurden von
ihm beſonders in mancherlei Spielen unterrichtet,
deren er ſich aus ſeiner Jugendzeit erinnerte.
Das Beſte jedoch von dem Inhalt ſeiner Er¬
innerungen war für Tobias, er ſchnitzelte ihm
Fitſchepfeile, die höher flogen wie die aller an¬

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[15/0027] ſcheuer Freude zur Thüre hinaus. Thiel ent¬ kleidete ſich, ging zu Bett und entſchlief, nach¬ dem er geraume Zeit gedankenvoll die niedrige und riſſige Stubendecke angeſtarrt hatte. Gegen 12 Uhr mittags erwachte er, kleidete ſich an und ging, während ſeine Frau in ihrer lärmen¬ den Weiſe das Mittagbrot bereitete, hinaus auf die Straße, wo er Tobiaschen ſogleich aufgriff, der mit den Fingern Kalk aus einem Loche in der Wand kratzte und in den Mund ſteckte. Der Wärter nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm an den etwa acht Häuschen des Ortes vorüber bis hinunter zur Spree, die ſchwarz und glaſig zwiſchen ſchwach belaubten Pappeln lag. Dicht am Rande des Waſſers befand ſich ein Granitblock, auf welchen Thiel ſich nieder¬ ließ. Der ganze Ort hatte ſich gewöhnt, ihn bei nur irgend erträglichem Wetter an dieſer Stelle zu erblicken, die Kinder beſonders hingen an ihm, nannten ihn „Vater Thiel“ und wurden von ihm beſonders in mancherlei Spielen unterrichtet, deren er ſich aus ſeiner Jugendzeit erinnerte. Das Beſte jedoch von dem Inhalt ſeiner Er¬ innerungen war für Tobias, er ſchnitzelte ihm Fitſchepfeile, die höher flogen wie die aller an¬

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Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/27>, abgerufen am 27.04.2024.