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Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

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an Christi Einzug in Jerusalem erinnern und
schließlich der Worte: Siehe dein König kommt
zu Dir, sanftmüthig.

Noch eine Zeit lang fühlte er den Blick des
Mädchens sich nachfolgen. Aus irgend welchem
Grunde hielt er im Gehen möglichst genau die
Mitte des Fahrdamms inne, auch als er eine
Biegung machte in eine breite, weiße, sich ab¬
wärts senkende Straße hinein. Dabei wie unter
einem Zwange stehend, mußte er immer und
immer wiederholen: Dein König kommt zu Dir.

Kinderstimmen sangen diese Worte. Sie
lagen ihm noch ungeformt zwischen Gaumen
und Zunge. Aus dem unarticulierten Geräusch
seines Atems konnte er sie heraushören. Da¬
zwischen Hosiannah, rauschende Palmenwedel,
Jauchzen, bleiche, verzückte Gesichter. Dann
wieder jähe Stille -- Einsamkeit.

Er sah auf, voll Verwunderung. Wie leere
Coulissen alles. Häuser aus Stein rechts und
links, stumm, nüchtern, schläfrig. Nachdenklich
prüfte er. Allmählich da es feststand, begann
sein Inneres sich daran zu ordnen. So wurde
er klein, einfach und fing an nüchtern zu schauen.

Hier und da war ein Fenster geöffnet. Der
Kopf eines Hausmädchens wurde sichtbar, man

an Chriſti Einzug in Jeruſalem erinnern und
ſchließlich der Worte: Siehe dein König kommt
zu Dir, ſanftmüthig.

Noch eine Zeit lang fühlte er den Blick des
Mädchens ſich nachfolgen. Aus irgend welchem
Grunde hielt er im Gehen möglichſt genau die
Mitte des Fahrdamms inne, auch als er eine
Biegung machte in eine breite, weiße, ſich ab¬
wärts ſenkende Straße hinein. Dabei wie unter
einem Zwange ſtehend, mußte er immer und
immer wiederholen: Dein König kommt zu Dir.

Kinderſtimmen ſangen dieſe Worte. Sie
lagen ihm noch ungeformt zwiſchen Gaumen
und Zunge. Aus dem unarticulierten Geräuſch
ſeines Atems konnte er ſie heraushören. Da¬
zwiſchen Hoſiannah, rauſchende Palmenwedel,
Jauchzen, bleiche, verzückte Geſichter. Dann
wieder jähe Stille — Einſamkeit.

Er ſah auf, voll Verwunderung. Wie leere
Couliſſen alles. Häuſer aus Stein rechts und
links, ſtumm, nüchtern, ſchläfrig. Nachdenklich
prüfte er. Allmählich da es feſtſtand, begann
ſein Inneres ſich daran zu ordnen. So wurde
er klein, einfach und fing an nüchtern zu ſchauen.

Hier und da war ein Fenſter geöffnet. Der
Kopf eines Hausmädchens wurde ſichtbar, man

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[80/0094] an Chriſti Einzug in Jeruſalem erinnern und ſchließlich der Worte: Siehe dein König kommt zu Dir, ſanftmüthig. Noch eine Zeit lang fühlte er den Blick des Mädchens ſich nachfolgen. Aus irgend welchem Grunde hielt er im Gehen möglichſt genau die Mitte des Fahrdamms inne, auch als er eine Biegung machte in eine breite, weiße, ſich ab¬ wärts ſenkende Straße hinein. Dabei wie unter einem Zwange ſtehend, mußte er immer und immer wiederholen: Dein König kommt zu Dir. Kinderſtimmen ſangen dieſe Worte. Sie lagen ihm noch ungeformt zwiſchen Gaumen und Zunge. Aus dem unarticulierten Geräuſch ſeines Atems konnte er ſie heraushören. Da¬ zwiſchen Hoſiannah, rauſchende Palmenwedel, Jauchzen, bleiche, verzückte Geſichter. Dann wieder jähe Stille — Einſamkeit. Er ſah auf, voll Verwunderung. Wie leere Couliſſen alles. Häuſer aus Stein rechts und links, ſtumm, nüchtern, ſchläfrig. Nachdenklich prüfte er. Allmählich da es feſtſtand, begann ſein Inneres ſich daran zu ordnen. So wurde er klein, einfach und fing an nüchtern zu ſchauen. Hier und da war ein Fenſter geöffnet. Der Kopf eines Hausmädchens wurde ſichtbar, man

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Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/94>, abgerufen am 09.05.2024.