Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hebel, Johann Peter: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

man euch sagen und wohl bezahlen." - Eine Kutsche zur Reise stand auch schon vor der Hausthüre. Der Scharfrichter dachte: "das ist meines Amts", und setzte sich in die Kutsche. Als er noch eine Stunde herwärts Nanzig war, es war schon Abend, und die Sonne gieng in blutrothen Wolken unter, und der Kutscher hielt stille, und sagte: Wir bekommen morgen wieder schön Wetter, da standen auf einmal drei starke, bewaffnete Männer an der Straße, die setzten sich auch zu dem Scharfrichter, und versprachen ihm, daß ihm kein Leids widerfahren sollte, aber die Augen müßt Ihr euch zubinden lassen; und als sie ihm die Augen zugebunden hatten, sagten sie: "Schwager fahr zu." Der Schwager fuhr fort, und es war dem Scharfrichter, als wenn er noch gute zwölf Stunden weiter wäre geführt worden, und konnte nicht wissen, wo er war. Er hörte die Nachteulen der Mitternacht; er hörte die Hähne rufen; er hörte die Morgenglocken läuten. Auf einmal hielt die Kutsche wieder still. Man führte ihn in ein Haus und gab ihm eins zu trinken, und einen guten Wurstwecken dazu. Als er sich mit Speise und Trank gestärkt hatte, führte man ihn weiter im nämlichen Haus, Thür ein und aus, Treppe auf und ab, und als man ihm die Binde abnahm, befand er sich in einem großen Saal. Der Saal war zwar ringsum mit schwarzen Tüchern behängt, und auf den Tischen brannten Wachskerzen. In der Mitte saß auf einem Stuhl eine Person mit entblößtem Hals und mit einer Larve vor dem Gesicht, und muß etwas in dem Mund gehabt haben, denn sie konnte nicht reden, sondern nur schluchzen. Aber an den Wänden standen mehrere

man euch sagen und wohl bezahlen.“ – Eine Kutsche zur Reise stand auch schon vor der Hausthüre. Der Scharfrichter dachte: „das ist meines Amts“, und setzte sich in die Kutsche. Als er noch eine Stunde herwärts Nanzig war, es war schon Abend, und die Sonne gieng in blutrothen Wolken unter, und der Kutscher hielt stille, und sagte: Wir bekommen morgen wieder schön Wetter, da standen auf einmal drei starke, bewaffnete Männer an der Straße, die setzten sich auch zu dem Scharfrichter, und versprachen ihm, daß ihm kein Leids widerfahren sollte, aber die Augen müßt Ihr euch zubinden lassen; und als sie ihm die Augen zugebunden hatten, sagten sie: „Schwager fahr zu.“ Der Schwager fuhr fort, und es war dem Scharfrichter, als wenn er noch gute zwölf Stunden weiter wäre geführt worden, und konnte nicht wissen, wo er war. Er hörte die Nachteulen der Mitternacht; er hörte die Hähne rufen; er hörte die Morgenglocken läuten. Auf einmal hielt die Kutsche wieder still. Man führte ihn in ein Haus und gab ihm eins zu trinken, und einen guten Wurstwecken dazu. Als er sich mit Speise und Trank gestärkt hatte, führte man ihn weiter im nämlichen Haus, Thür ein und aus, Treppe auf und ab, und als man ihm die Binde abnahm, befand er sich in einem großen Saal. Der Saal war zwar ringsum mit schwarzen Tüchern behängt, und auf den Tischen brannten Wachskerzen. In der Mitte saß auf einem Stuhl eine Person mit entblößtem Hals und mit einer Larve vor dem Gesicht, und muß etwas in dem Mund gehabt haben, denn sie konnte nicht reden, sondern nur schluchzen. Aber an den Wänden standen mehrere

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0236" n="228"/>
man euch sagen und wohl bezahlen.&#x201C; &#x2013; Eine Kutsche zur Reise stand auch schon vor der Hausthüre. Der Scharfrichter dachte: &#x201E;das ist meines Amts&#x201C;, und setzte sich in die Kutsche. Als er noch eine Stunde herwärts Nanzig war, es war schon Abend, und die Sonne gieng in blutrothen Wolken unter, und der Kutscher hielt stille, und sagte: Wir bekommen morgen wieder schön Wetter, da standen auf einmal drei starke, bewaffnete Männer an der Straße, die setzten sich auch zu dem Scharfrichter, und versprachen ihm, daß ihm kein Leids widerfahren sollte, aber die Augen müßt Ihr euch zubinden lassen; und als sie ihm die Augen zugebunden hatten, sagten sie: &#x201E;Schwager fahr zu.&#x201C; Der Schwager fuhr fort, und es war dem Scharfrichter, als wenn er noch gute zwölf Stunden weiter wäre geführt worden, und konnte nicht wissen, wo er war. Er hörte die Nachteulen der Mitternacht; er hörte die Hähne rufen; er hörte die Morgenglocken läuten. Auf einmal hielt die Kutsche wieder still. Man führte ihn in ein Haus und gab ihm eins zu trinken, und einen guten Wurstwecken dazu. Als er sich mit Speise und Trank gestärkt hatte, führte man ihn weiter im nämlichen Haus, Thür ein und aus, Treppe auf und ab, und als man ihm die Binde abnahm, befand er sich in einem großen Saal. Der Saal war zwar ringsum mit schwarzen Tüchern behängt, und auf den Tischen brannten Wachskerzen. In der Mitte saß auf einem Stuhl eine Person mit entblößtem Hals und mit einer Larve vor dem Gesicht, und muß etwas in dem Mund gehabt haben, denn sie konnte nicht reden, sondern nur schluchzen. Aber an den Wänden standen mehrere
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228/0236] man euch sagen und wohl bezahlen.“ – Eine Kutsche zur Reise stand auch schon vor der Hausthüre. Der Scharfrichter dachte: „das ist meines Amts“, und setzte sich in die Kutsche. Als er noch eine Stunde herwärts Nanzig war, es war schon Abend, und die Sonne gieng in blutrothen Wolken unter, und der Kutscher hielt stille, und sagte: Wir bekommen morgen wieder schön Wetter, da standen auf einmal drei starke, bewaffnete Männer an der Straße, die setzten sich auch zu dem Scharfrichter, und versprachen ihm, daß ihm kein Leids widerfahren sollte, aber die Augen müßt Ihr euch zubinden lassen; und als sie ihm die Augen zugebunden hatten, sagten sie: „Schwager fahr zu.“ Der Schwager fuhr fort, und es war dem Scharfrichter, als wenn er noch gute zwölf Stunden weiter wäre geführt worden, und konnte nicht wissen, wo er war. Er hörte die Nachteulen der Mitternacht; er hörte die Hähne rufen; er hörte die Morgenglocken läuten. Auf einmal hielt die Kutsche wieder still. Man führte ihn in ein Haus und gab ihm eins zu trinken, und einen guten Wurstwecken dazu. Als er sich mit Speise und Trank gestärkt hatte, führte man ihn weiter im nämlichen Haus, Thür ein und aus, Treppe auf und ab, und als man ihm die Binde abnahm, befand er sich in einem großen Saal. Der Saal war zwar ringsum mit schwarzen Tüchern behängt, und auf den Tischen brannten Wachskerzen. In der Mitte saß auf einem Stuhl eine Person mit entblößtem Hals und mit einer Larve vor dem Gesicht, und muß etwas in dem Mund gehabt haben, denn sie konnte nicht reden, sondern nur schluchzen. Aber an den Wänden standen mehrere

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-12-03T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-12-03T13:54:31Z)
Frederike Neuber: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-12-03T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hebel_schatzkaestlein_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hebel_schatzkaestlein_1811/236
Zitationshilfe: Hebel, Johann Peter: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Tübingen, 1811, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebel_schatzkaestlein_1811/236>, abgerufen am 21.11.2024.