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Hebel, Johann Peter: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Tübingen, 1811.

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war nur Schnee und Schnee, und kein Zeichen einer Wohnung, keine Spur des Lebens mehr wahrzunehmen. Doch vernahm er nach langem ängstlichem Rufen, wie aus einem tiefen Grab, die Stimme seines Weibes unter dem Schnee herauf. Und als er sie glücklich und unbeschädiget hervor gegraben hatte, da hörten sie plötzlich noch eine bekannte und liebe Stimme: "Mutter, ich wäre auch noch am Leben", rief ein Kind, "aber ich kann nicht heraus." Nun arbeitete Vater und Mutter noch einmal und brachten auch das Kind hervor, und ein Arm war ihm abgebrochen. Da ward ihr Herz mit Freude und Schmerzen erfüllt, und von ihren Augen flossen Thränen des Dankes und der Wehmuth. Denn die zwei andern Kinder wurden auch noch herausgegraben, aber todt.

In Pilzeig, ebenfalls im Canton Uri, wurde eine Mutter mit zwei Kindern fortgerissen, und unten in der Tiefe vom Schnee verschüttet. Ein Mann, ihr Nachbar, den die Lavine ebenfalls dahin geworfen hatte, hörte ihr Wimmern und grub sie hervor. Vergeblich war das Lächeln der Hoffnung in ihrem Antliz. Als die Mutter halb nackt umher schaute, kannte sie die Gegend nicht mehr, in der sie war. Ihr Retter selbst war unmächtig niedergesunken. Neue Hügel und Berge von Schnee, und ein entsetzlicher Wirbel von Schneeflocken füllten die Luft. Da sagte die Mutter: "Kinder, hier ist keine Rettung möglich; wir wollen beten, und uns dem Willen Gottes über lassen." Und als sie beteten, sank die siebenjährige Tochter sterbend in die Arme der Mutter, und als die Mutter mit gebrochenem Herzen ihr zusprach, und

war nur Schnee und Schnee, und kein Zeichen einer Wohnung, keine Spur des Lebens mehr wahrzunehmen. Doch vernahm er nach langem ängstlichem Rufen, wie aus einem tiefen Grab, die Stimme seines Weibes unter dem Schnee herauf. Und als er sie glücklich und unbeschädiget hervor gegraben hatte, da hörten sie plötzlich noch eine bekannte und liebe Stimme: „Mutter, ich wäre auch noch am Leben“, rief ein Kind, „aber ich kann nicht heraus.“ Nun arbeitete Vater und Mutter noch einmal und brachten auch das Kind hervor, und ein Arm war ihm abgebrochen. Da ward ihr Herz mit Freude und Schmerzen erfüllt, und von ihren Augen flossen Thränen des Dankes und der Wehmuth. Denn die zwei andern Kinder wurden auch noch herausgegraben, aber todt.

In Pilzeig, ebenfalls im Canton Uri, wurde eine Mutter mit zwei Kindern fortgerissen, und unten in der Tiefe vom Schnee verschüttet. Ein Mann, ihr Nachbar, den die Lavine ebenfalls dahin geworfen hatte, hörte ihr Wimmern und grub sie hervor. Vergeblich war das Lächeln der Hoffnung in ihrem Antliz. Als die Mutter halb nackt umher schaute, kannte sie die Gegend nicht mehr, in der sie war. Ihr Retter selbst war unmächtig niedergesunken. Neue Hügel und Berge von Schnee, und ein entsetzlicher Wirbel von Schneeflocken füllten die Luft. Da sagte die Mutter: „Kinder, hier ist keine Rettung möglich; wir wollen beten, und uns dem Willen Gottes über lassen.“ Und als sie beteten, sank die siebenjährige Tochter sterbend in die Arme der Mutter, und als die Mutter mit gebrochenem Herzen ihr zusprach, und

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[252/0260] war nur Schnee und Schnee, und kein Zeichen einer Wohnung, keine Spur des Lebens mehr wahrzunehmen. Doch vernahm er nach langem ängstlichem Rufen, wie aus einem tiefen Grab, die Stimme seines Weibes unter dem Schnee herauf. Und als er sie glücklich und unbeschädiget hervor gegraben hatte, da hörten sie plötzlich noch eine bekannte und liebe Stimme: „Mutter, ich wäre auch noch am Leben“, rief ein Kind, „aber ich kann nicht heraus.“ Nun arbeitete Vater und Mutter noch einmal und brachten auch das Kind hervor, und ein Arm war ihm abgebrochen. Da ward ihr Herz mit Freude und Schmerzen erfüllt, und von ihren Augen flossen Thränen des Dankes und der Wehmuth. Denn die zwei andern Kinder wurden auch noch herausgegraben, aber todt. In Pilzeig, ebenfalls im Canton Uri, wurde eine Mutter mit zwei Kindern fortgerissen, und unten in der Tiefe vom Schnee verschüttet. Ein Mann, ihr Nachbar, den die Lavine ebenfalls dahin geworfen hatte, hörte ihr Wimmern und grub sie hervor. Vergeblich war das Lächeln der Hoffnung in ihrem Antliz. Als die Mutter halb nackt umher schaute, kannte sie die Gegend nicht mehr, in der sie war. Ihr Retter selbst war unmächtig niedergesunken. Neue Hügel und Berge von Schnee, und ein entsetzlicher Wirbel von Schneeflocken füllten die Luft. Da sagte die Mutter: „Kinder, hier ist keine Rettung möglich; wir wollen beten, und uns dem Willen Gottes über lassen.“ Und als sie beteten, sank die siebenjährige Tochter sterbend in die Arme der Mutter, und als die Mutter mit gebrochenem Herzen ihr zusprach, und

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Zitationshilfe: Hebel, Johann Peter: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Tübingen, 1811, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebel_schatzkaestlein_1811/260>, abgerufen am 22.11.2024.