war doch ihr intoleranter Sectengeist, -- ist bitterer Spott über anders Denkende nicht auch Intoleranz? -- desto uner- träglicher, je mehr sie von Toleranz zu sprechen pflegten.
72. Diese Ideen-Umwälzung gieng von der Stadt aus, welche als der Centralpunct der intel- lectuellen Cultur und des Geschmacks betrachtet ward. Freylich fehlte viel, daß ihre Urheber auf das Aus- land eben so als auf ihre Nation zurückgewirkt hätten; aber doch -- wie groß war nicht ihr Wir- kungskreis? Sie bestimmten, wenn auch nicht die Denkart der Nationen, doch die der höhern Classe der Gesellschaft. Ihr Einfluß wurde aber noch vor allem dadurch vermehrt, daß es das Eigenthümliche des Zeitalters war, daß sie selber unter dieser Classe lebten. Nie hatten daher auch Schriftsteller so ge- wirkt, als sie wirken konnten.
Für kein Zeitalter ist die Kenntniß der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt, und besonders der der Gelehrten und Schriftsteller zu der Gesellschaft so wichtig, als für die- ses! Die treueste und lebendigste Schilderung davon in Pa- ris geben:
Memoires de Marmontel T. I-IV. 1803. Ein unschätzbarer Beytrag zur Kenntniß der Zeit!
73. Unter diesen Umständen erhielt die öffent- liche Meinung, durch Schriftsteller geleitet, ein Gewicht, das sie sonst nicht gehabt hatte; und diejenigen Institute, gegen welche sie sich erklärte, behielten nur eine sehr ungewisse Existenz. Den
ersten
II. Per. C. I. Geſch. d. ſuͤdl. Eur. Staatenſyſt.
war doch ihr intoleranter Sectengeiſt, — iſt bitterer Spott uͤber anders Denkende nicht auch Intoleranz? — deſto uner- traͤglicher, je mehr ſie von Toleranz zu ſprechen pflegten.
72. Dieſe Ideen-Umwaͤlzung gieng von der Stadt aus, welche als der Centralpunct der intel- lectuellen Cultur und des Geſchmacks betrachtet ward. Freylich fehlte viel, daß ihre Urheber auf das Aus- land eben ſo als auf ihre Nation zuruͤckgewirkt haͤtten; aber doch — wie groß war nicht ihr Wir- kungskreis? Sie beſtimmten, wenn auch nicht die Denkart der Nationen, doch die der hoͤhern Claſſe der Geſellſchaft. Ihr Einfluß wurde aber noch vor allem dadurch vermehrt, daß es das Eigenthuͤmliche des Zeitalters war, daß ſie ſelber unter dieſer Claſſe lebten. Nie hatten daher auch Schriftſteller ſo ge- wirkt, als ſie wirken konnten.
Fuͤr kein Zeitalter iſt die Kenntniß der geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſe uͤberhaupt, und beſonders der der Gelehrten und Schriftſteller zu der Geſellſchaft ſo wichtig, als fuͤr die- ſes! Die treueſte und lebendigſte Schilderung davon in Pa- ris geben:
Mémoires de Marmontel T. I-IV. 1803. Ein unſchaͤtzbarer Beytrag zur Kenntniß der Zeit!
73. Unter dieſen Umſtaͤnden erhielt die oͤffent- liche Meinung, durch Schriftſteller geleitet, ein Gewicht, das ſie ſonſt nicht gehabt hatte; und diejenigen Inſtitute, gegen welche ſie ſich erklaͤrte, behielten nur eine ſehr ungewiſſe Exiſtenz. Den
erſten
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II. Per. C. I. Geſch. d. ſuͤdl. Eur. Staatenſyſt.
war doch ihr intoleranter Sectengeiſt, — iſt bitterer Spott
uͤber anders Denkende nicht auch Intoleranz? — deſto uner-
traͤglicher, je mehr ſie von Toleranz zu ſprechen pflegten.
72. Dieſe Ideen-Umwaͤlzung gieng von der
Stadt aus, welche als der Centralpunct der intel-
lectuellen Cultur und des Geſchmacks betrachtet ward.
Freylich fehlte viel, daß ihre Urheber auf das Aus-
land eben ſo als auf ihre Nation zuruͤckgewirkt
haͤtten; aber doch — wie groß war nicht ihr Wir-
kungskreis? Sie beſtimmten, wenn auch nicht die
Denkart der Nationen, doch die der hoͤhern Claſſe
der Geſellſchaft. Ihr Einfluß wurde aber noch vor
allem dadurch vermehrt, daß es das Eigenthuͤmliche
des Zeitalters war, daß ſie ſelber unter dieſer Claſſe
lebten. Nie hatten daher auch Schriftſteller ſo ge-
wirkt, als ſie wirken konnten.
Fuͤr kein Zeitalter iſt die Kenntniß der geſellſchaftlichen
Verhaͤltniſſe uͤberhaupt, und beſonders der der Gelehrten
und Schriftſteller zu der Geſellſchaft ſo wichtig, als fuͤr die-
ſes! Die treueſte und lebendigſte Schilderung davon in Pa-
ris geben:
Mémoires de Marmontel T. I-IV. 1803. Ein unſchaͤtzbarer
Beytrag zur Kenntniß der Zeit!
73. Unter dieſen Umſtaͤnden erhielt die oͤffent-
liche Meinung, durch Schriftſteller geleitet,
ein Gewicht, das ſie ſonſt nicht gehabt hatte; und
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Heeren, Arnold H. L.: Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Kolonien. Göttingen, 1809, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heeren_staatensystem_1809/456>, abgerufen am 22.11.2024.
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