Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. §. 111.
tritt das Recht der Retorsion 1 in Kraft, d. h. die Rückan-
wendung desselben Princips gegen die solchergestalt handelnde Macht,
um sich in Gleichheit mit derselben zu stellen oder zu erhalten, bis
die Unbilligkeit gehoben ist, eine retorsio iuris, geheiligt in dem
Rechtssatz: quod quisque in alterum statuerit ut ipse eodem
iure utatur,
um den Egoismus oder die Einseitigkeit des Andern
ihm selbst fühlbar zu machen. 2

Einer Anwendung dieser Maxime ist nicht allein dann erst Raum
gegeben, wenn eine Macht von dem für eine andere Nation be-
schwerlichen Grundsatz schon in einem oder dem anderen Falle Ge-
brauch gemacht hat, sondern es genügt dazu schon die Aufstellung
des Grundsatzes als eines fortan giltig sein sollenden. Ungenügend
ist hingegen eine bloße Verschiedenheit der Gesetze verschiedener
Länder, wonach zufällig bei einzelnen Ereignissen der Ausländer nicht
dasselbe Recht erlangen kann, welches er in seinem eigenen Vater-
lande unter gleichen factischen Voraussetzungen haben würde, ohne
daß aber das von dem einheimischen abweichende ausländische Ge-
setz gegen die Fremden berechnet ist; z. B. wenn ein Staat bei
der Intestaterbfolge andere Erbqualificationen oder Classificationen
aufstellt, als ein anderer Staat.

Niemals versteht sich sodann die Ausübung der Retorsion ge-
gen fremde Staaten ganz von selbst als ein Recht der einzelnen
Staatsgenossen, sondern es bedarf dazu eines legislativen Beschlus-
ses der Staatsgewalt und einer Autorisation für die Behörden
oder die Einzelnen. 3 Jene allein hat auch zu bestimmen, in wel-
cher Form und in welchen Grenzen die Retorsion bestehen, wem
endlich der Vortheil davon zuwachsen soll. Dies ist Sache des
inneren Staatsrechts.

Kann nach der Natur des Falles nicht genau an denselben
Gegenständen oder in derselben Form eine Retaliation desselben ge-

1 Schriften bei v. Ompteda §. 287. v. Kamptz §. 269. S. auch Moser
Vers. VIII, 485. Vattel II, §. 341. v. Martens, Völkerr. §. 250.
und Mittermaier deutsches Privatr. §. 110.
2 Die Retorsion ist eine Reaction gegen eine Iniquität (ius iniquum), die
Repressalien gegen eine Ungerechtigkeit (injustitia). S. besonders Jo. Go-
thofr. Bauer, in Opusc. t. I, p. 157 s.
3 Vgl. Dav. Gr. Struben, Rechtl. Bedenken V, n. 47. (Ausg. v. Span-
genberg Bd. II, S. 321.

Zweites Buch. §. 111.
tritt das Recht der Retorſion 1 in Kraft, d. h. die Rückan-
wendung deſſelben Princips gegen die ſolchergeſtalt handelnde Macht,
um ſich in Gleichheit mit derſelben zu ſtellen oder zu erhalten, bis
die Unbilligkeit gehoben iſt, eine retorsio iuris, geheiligt in dem
Rechtsſatz: quod quisque in alterum statuerit ut ipse eodem
iure utatur,
um den Egoismus oder die Einſeitigkeit des Andern
ihm ſelbſt fühlbar zu machen. 2

Einer Anwendung dieſer Maxime iſt nicht allein dann erſt Raum
gegeben, wenn eine Macht von dem für eine andere Nation be-
ſchwerlichen Grundſatz ſchon in einem oder dem anderen Falle Ge-
brauch gemacht hat, ſondern es genügt dazu ſchon die Aufſtellung
des Grundſatzes als eines fortan giltig ſein ſollenden. Ungenügend
iſt hingegen eine bloße Verſchiedenheit der Geſetze verſchiedener
Länder, wonach zufällig bei einzelnen Ereigniſſen der Ausländer nicht
daſſelbe Recht erlangen kann, welches er in ſeinem eigenen Vater-
lande unter gleichen factiſchen Vorausſetzungen haben würde, ohne
daß aber das von dem einheimiſchen abweichende ausländiſche Ge-
ſetz gegen die Fremden berechnet iſt; z. B. wenn ein Staat bei
der Inteſtaterbfolge andere Erbqualificationen oder Claſſificationen
aufſtellt, als ein anderer Staat.

Niemals verſteht ſich ſodann die Ausübung der Retorſion ge-
gen fremde Staaten ganz von ſelbſt als ein Recht der einzelnen
Staatsgenoſſen, ſondern es bedarf dazu eines legislativen Beſchluſ-
ſes der Staatsgewalt und einer Autoriſation für die Behörden
oder die Einzelnen. 3 Jene allein hat auch zu beſtimmen, in wel-
cher Form und in welchen Grenzen die Retorſion beſtehen, wem
endlich der Vortheil davon zuwachſen ſoll. Dies iſt Sache des
inneren Staatsrechts.

Kann nach der Natur des Falles nicht genau an denſelben
Gegenſtänden oder in derſelben Form eine Retaliation deſſelben ge-

1 Schriften bei v. Ompteda §. 287. v. Kamptz §. 269. S. auch Moſer
Verſ. VIII, 485. Vattel II, §. 341. v. Martens, Völkerr. §. 250.
und Mittermaier deutſches Privatr. §. 110.
2 Die Retorſion iſt eine Reaction gegen eine Iniquität (ius iniquum), die
Repreſſalien gegen eine Ungerechtigkeit (injustitia). S. beſonders Jo. Go-
thofr. Bauer, in Opusc. t. I, p. 157 s.
3 Vgl. Dav. Gr. Struben, Rechtl. Bedenken V, n. 47. (Ausg. v. Span-
genberg Bd. II, S. 321.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0216" n="192"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweites Buch</hi>. §. 111.</fw><lb/>
tritt das Recht der <hi rendition="#g">Retor&#x017F;ion</hi> <note place="foot" n="1">Schriften bei v. Ompteda §. 287. v. Kamptz §. 269. S. auch Mo&#x017F;er<lb/>
Ver&#x017F;. <hi rendition="#aq">VIII,</hi> 485. Vattel <hi rendition="#aq">II,</hi> §. 341. v. Martens, Völkerr. §. 250.<lb/>
und Mittermaier deut&#x017F;ches Privatr. §. 110.</note> in Kraft, d. h. die Rückan-<lb/>
wendung de&#x017F;&#x017F;elben Princips gegen die &#x017F;olcherge&#x017F;talt handelnde Macht,<lb/>
um &#x017F;ich in Gleichheit mit der&#x017F;elben zu &#x017F;tellen oder zu erhalten, bis<lb/>
die Unbilligkeit gehoben i&#x017F;t, eine <hi rendition="#aq">retorsio iuris,</hi> geheiligt in dem<lb/>
Rechts&#x017F;atz: <hi rendition="#aq">quod quisque in alterum statuerit ut ipse eodem<lb/>
iure utatur,</hi> um den Egoismus oder die Ein&#x017F;eitigkeit des Andern<lb/>
ihm &#x017F;elb&#x017F;t fühlbar zu machen. <note place="foot" n="2">Die Retor&#x017F;ion i&#x017F;t eine Reaction gegen eine Iniquität (<hi rendition="#aq">ius iniquum</hi>), die<lb/>
Repre&#x017F;&#x017F;alien gegen eine Ungerechtigkeit (<hi rendition="#aq">injustitia</hi>). S. be&#x017F;onders <hi rendition="#aq">Jo. Go-<lb/>
thofr. Bauer, in Opusc. t. I, p. 157 s.</hi></note></p><lb/>
            <p>Einer Anwendung die&#x017F;er Maxime i&#x017F;t nicht allein dann er&#x017F;t Raum<lb/>
gegeben, wenn eine Macht von dem für eine andere Nation be-<lb/>
&#x017F;chwerlichen Grund&#x017F;atz &#x017F;chon in einem oder dem anderen Falle Ge-<lb/>
brauch gemacht hat, &#x017F;ondern es genügt dazu &#x017F;chon die Auf&#x017F;tellung<lb/>
des Grund&#x017F;atzes als eines fortan giltig &#x017F;ein &#x017F;ollenden. Ungenügend<lb/>
i&#x017F;t hingegen eine bloße Ver&#x017F;chiedenheit der Ge&#x017F;etze ver&#x017F;chiedener<lb/>
Länder, wonach zufällig bei einzelnen Ereigni&#x017F;&#x017F;en der Ausländer nicht<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe Recht erlangen kann, welches er in &#x017F;einem eigenen Vater-<lb/>
lande unter gleichen facti&#x017F;chen Voraus&#x017F;etzungen haben würde, ohne<lb/>
daß aber das von dem einheimi&#x017F;chen abweichende ausländi&#x017F;che Ge-<lb/>
&#x017F;etz gegen die Fremden berechnet i&#x017F;t; z. B. wenn ein Staat bei<lb/>
der Inte&#x017F;taterbfolge andere Erbqualificationen oder Cla&#x017F;&#x017F;ificationen<lb/>
auf&#x017F;tellt, als ein anderer Staat.</p><lb/>
            <p>Niemals ver&#x017F;teht &#x017F;ich &#x017F;odann die Ausübung der Retor&#x017F;ion ge-<lb/>
gen fremde Staaten ganz von &#x017F;elb&#x017F;t als ein Recht der einzelnen<lb/>
Staatsgeno&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern es bedarf dazu eines legislativen Be&#x017F;chlu&#x017F;-<lb/>
&#x017F;es der Staatsgewalt und einer Autori&#x017F;ation für die Behörden<lb/>
oder die Einzelnen. <note place="foot" n="3">Vgl. Dav. Gr. Struben, Rechtl. Bedenken <hi rendition="#aq">V, n.</hi> 47. (Ausg. v. Span-<lb/>
genberg Bd. <hi rendition="#aq">II,</hi> S. 321.</note> Jene allein hat auch zu be&#x017F;timmen, in wel-<lb/>
cher Form und in welchen Grenzen die Retor&#x017F;ion be&#x017F;tehen, wem<lb/>
endlich der Vortheil davon zuwach&#x017F;en &#x017F;oll. Dies i&#x017F;t Sache des<lb/>
inneren Staatsrechts.</p><lb/>
            <p>Kann nach der Natur des Falles nicht genau an den&#x017F;elben<lb/>
Gegen&#x017F;tänden oder in der&#x017F;elben Form eine Retaliation de&#x017F;&#x017F;elben ge-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0216] Zweites Buch. §. 111. tritt das Recht der Retorſion 1 in Kraft, d. h. die Rückan- wendung deſſelben Princips gegen die ſolchergeſtalt handelnde Macht, um ſich in Gleichheit mit derſelben zu ſtellen oder zu erhalten, bis die Unbilligkeit gehoben iſt, eine retorsio iuris, geheiligt in dem Rechtsſatz: quod quisque in alterum statuerit ut ipse eodem iure utatur, um den Egoismus oder die Einſeitigkeit des Andern ihm ſelbſt fühlbar zu machen. 2 Einer Anwendung dieſer Maxime iſt nicht allein dann erſt Raum gegeben, wenn eine Macht von dem für eine andere Nation be- ſchwerlichen Grundſatz ſchon in einem oder dem anderen Falle Ge- brauch gemacht hat, ſondern es genügt dazu ſchon die Aufſtellung des Grundſatzes als eines fortan giltig ſein ſollenden. Ungenügend iſt hingegen eine bloße Verſchiedenheit der Geſetze verſchiedener Länder, wonach zufällig bei einzelnen Ereigniſſen der Ausländer nicht daſſelbe Recht erlangen kann, welches er in ſeinem eigenen Vater- lande unter gleichen factiſchen Vorausſetzungen haben würde, ohne daß aber das von dem einheimiſchen abweichende ausländiſche Ge- ſetz gegen die Fremden berechnet iſt; z. B. wenn ein Staat bei der Inteſtaterbfolge andere Erbqualificationen oder Claſſificationen aufſtellt, als ein anderer Staat. Niemals verſteht ſich ſodann die Ausübung der Retorſion ge- gen fremde Staaten ganz von ſelbſt als ein Recht der einzelnen Staatsgenoſſen, ſondern es bedarf dazu eines legislativen Beſchluſ- ſes der Staatsgewalt und einer Autoriſation für die Behörden oder die Einzelnen. 3 Jene allein hat auch zu beſtimmen, in wel- cher Form und in welchen Grenzen die Retorſion beſtehen, wem endlich der Vortheil davon zuwachſen ſoll. Dies iſt Sache des inneren Staatsrechts. Kann nach der Natur des Falles nicht genau an denſelben Gegenſtänden oder in derſelben Form eine Retaliation deſſelben ge- 1 Schriften bei v. Ompteda §. 287. v. Kamptz §. 269. S. auch Moſer Verſ. VIII, 485. Vattel II, §. 341. v. Martens, Völkerr. §. 250. und Mittermaier deutſches Privatr. §. 110. 2 Die Retorſion iſt eine Reaction gegen eine Iniquität (ius iniquum), die Repreſſalien gegen eine Ungerechtigkeit (injustitia). S. beſonders Jo. Go- thofr. Bauer, in Opusc. t. I, p. 157 s. 3 Vgl. Dav. Gr. Struben, Rechtl. Bedenken V, n. 47. (Ausg. v. Span- genberg Bd. II, S. 321.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/216
Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/216>, abgerufen am 04.12.2024.