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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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Erstes Buch. §. 30.

Begreiflicher Weise läßt sich in den Staatenverhältnissen nicht
der engere Maaßstab anlegen, wornach der Gebrauch der vorste-
henden Grundsätze in Privatverhältnissen beurtheilt werden muß.
Bei dem Geheimniß, worin sich die Politik einhüllt, ist es oft schwer,
die Absichtlichkeit einer Richtung, das wahre Ziel einer Bewegung
zu erkennen. Zuweilen wird selbst längere Beobachtung des ganzen
Systems eines Hofes doch nur Vermuthungen an die Hand geben
und ein Irrthum sehr zu entschuldigen sein. Gewiß ist aber auch
Vorsicht gegen Uebereilungen und gegenseitige Offenheit geboten. 1

Daß der bedeutende, obwohl völlig legitime Anwachs einer ein-
zelnen Macht, weil sie in der Folge einmal gefährlich werden könnte,
noch keinen Zustand der Nothwehr oder eines rechtmäßigen Krieges
hervorrufe, zeigt sich in dem Mangel an den erforderlichen Bedin-
gungen der Nothwehr, hauptsächlich eines wirklich zu befürchtenden
unrechtmäßigen Angriffs. Auch kann das Colossale einer Macht noch
nicht als ein schon vorhandener Nothstand für die Uebrigen angesehen
werden. Unbedenklich liegt es aber in deren Befugnissen, jeder fer-
neren Vergrößerung einer Macht, wozu sie noch keinen unbestritte-
nen Titel hat, z. B. Vermählungen, Cessionen und dergl. zu verhin-
dern zu suchen, ohne daß darin an und für sich eine Beleidigung
gefunden werden kann. 2

Auf ähnliche Weise verhält es sich mit der Frage, ob bevor-
stehende oder schon eintretende Aenderungen des momentanen Gleich-
gewichts der Staaten den dadurch möglicher Weise in Gefahr ge-
rathenden ein Recht zum thatsächlichen Widerstande geben. Be-
ruht die Veränderung auf bereits vorhandenen rechtmäßigen Titeln,
so wird jeder Widerstand in der Regel unrechtmäßig sein; außer-
dem aber kann die Präventivpolitik ihre ganze Thätigkeit zur Hin-
derung des Bevorstehenden entwickeln. 3

Nur deutlich erkennbare Bestrebungen einer Macht zu einer
Universalherrschaft versetzen unbedenklich alle übrigen in den Fall
eines Nothstandes.


1 Ueber das hier eintretende Fragerecht s. unten bei der Materie der Inter-
vention.
2 Die verschiedenen Ansichten sind zusammengestellt bei Günther I, S. 362 ff.
3 Hier ist vorzüglich die Coalitionspolitik an ihrem Ort. Darauf beruhten
unter anderm die großen Coalitionen in Betreff der Spanischen Monarchie
vor Absterben König Carls II., der Deutsche Fürstenbund von 1785, die
Coalition gegen Napoleon u. s. f.
Erſtes Buch. §. 30.

Begreiflicher Weiſe läßt ſich in den Staatenverhältniſſen nicht
der engere Maaßſtab anlegen, wornach der Gebrauch der vorſte-
henden Grundſätze in Privatverhältniſſen beurtheilt werden muß.
Bei dem Geheimniß, worin ſich die Politik einhüllt, iſt es oft ſchwer,
die Abſichtlichkeit einer Richtung, das wahre Ziel einer Bewegung
zu erkennen. Zuweilen wird ſelbſt längere Beobachtung des ganzen
Syſtems eines Hofes doch nur Vermuthungen an die Hand geben
und ein Irrthum ſehr zu entſchuldigen ſein. Gewiß iſt aber auch
Vorſicht gegen Uebereilungen und gegenſeitige Offenheit geboten. 1

Daß der bedeutende, obwohl völlig legitime Anwachs einer ein-
zelnen Macht, weil ſie in der Folge einmal gefährlich werden könnte,
noch keinen Zuſtand der Nothwehr oder eines rechtmäßigen Krieges
hervorrufe, zeigt ſich in dem Mangel an den erforderlichen Bedin-
gungen der Nothwehr, hauptſächlich eines wirklich zu befürchtenden
unrechtmaͤßigen Angriffs. Auch kann das Coloſſale einer Macht noch
nicht als ein ſchon vorhandener Nothſtand für die Uebrigen angeſehen
werden. Unbedenklich liegt es aber in deren Befugniſſen, jeder fer-
neren Vergrößerung einer Macht, wozu ſie noch keinen unbeſtritte-
nen Titel hat, z. B. Vermaͤhlungen, Ceſſionen und dergl. zu verhin-
dern zu ſuchen, ohne daß darin an und für ſich eine Beleidigung
gefunden werden kann. 2

Auf ähnliche Weiſe verhält es ſich mit der Frage, ob bevor-
ſtehende oder ſchon eintretende Aenderungen des momentanen Gleich-
gewichts der Staaten den dadurch möglicher Weiſe in Gefahr ge-
rathenden ein Recht zum thatſächlichen Widerſtande geben. Be-
ruht die Veränderung auf bereits vorhandenen rechtmäßigen Titeln,
ſo wird jeder Widerſtand in der Regel unrechtmäßig ſein; außer-
dem aber kann die Präventivpolitik ihre ganze Thätigkeit zur Hin-
derung des Bevorſtehenden entwickeln. 3

Nur deutlich erkennbare Beſtrebungen einer Macht zu einer
Univerſalherrſchaft verſetzen unbedenklich alle übrigen in den Fall
eines Nothſtandes.


1 Ueber das hier eintretende Fragerecht ſ. unten bei der Materie der Inter-
vention.
2 Die verſchiedenen Anſichten ſind zuſammengeſtellt bei Günther I, S. 362 ff.
3 Hier iſt vorzüglich die Coalitionspolitik an ihrem Ort. Darauf beruhten
unter anderm die großen Coalitionen in Betreff der Spaniſchen Monarchie
vor Abſterben König Carls II., der Deutſche Fürſtenbund von 1785, die
Coalition gegen Napoleon u. ſ. f.
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[52/0076] Erſtes Buch. §. 30. Begreiflicher Weiſe läßt ſich in den Staatenverhältniſſen nicht der engere Maaßſtab anlegen, wornach der Gebrauch der vorſte- henden Grundſätze in Privatverhältniſſen beurtheilt werden muß. Bei dem Geheimniß, worin ſich die Politik einhüllt, iſt es oft ſchwer, die Abſichtlichkeit einer Richtung, das wahre Ziel einer Bewegung zu erkennen. Zuweilen wird ſelbſt längere Beobachtung des ganzen Syſtems eines Hofes doch nur Vermuthungen an die Hand geben und ein Irrthum ſehr zu entſchuldigen ſein. Gewiß iſt aber auch Vorſicht gegen Uebereilungen und gegenſeitige Offenheit geboten. 1 Daß der bedeutende, obwohl völlig legitime Anwachs einer ein- zelnen Macht, weil ſie in der Folge einmal gefährlich werden könnte, noch keinen Zuſtand der Nothwehr oder eines rechtmäßigen Krieges hervorrufe, zeigt ſich in dem Mangel an den erforderlichen Bedin- gungen der Nothwehr, hauptſächlich eines wirklich zu befürchtenden unrechtmaͤßigen Angriffs. Auch kann das Coloſſale einer Macht noch nicht als ein ſchon vorhandener Nothſtand für die Uebrigen angeſehen werden. Unbedenklich liegt es aber in deren Befugniſſen, jeder fer- neren Vergrößerung einer Macht, wozu ſie noch keinen unbeſtritte- nen Titel hat, z. B. Vermaͤhlungen, Ceſſionen und dergl. zu verhin- dern zu ſuchen, ohne daß darin an und für ſich eine Beleidigung gefunden werden kann. 2 Auf ähnliche Weiſe verhält es ſich mit der Frage, ob bevor- ſtehende oder ſchon eintretende Aenderungen des momentanen Gleich- gewichts der Staaten den dadurch möglicher Weiſe in Gefahr ge- rathenden ein Recht zum thatſächlichen Widerſtande geben. Be- ruht die Veränderung auf bereits vorhandenen rechtmäßigen Titeln, ſo wird jeder Widerſtand in der Regel unrechtmäßig ſein; außer- dem aber kann die Präventivpolitik ihre ganze Thätigkeit zur Hin- derung des Bevorſtehenden entwickeln. 3 Nur deutlich erkennbare Beſtrebungen einer Macht zu einer Univerſalherrſchaft verſetzen unbedenklich alle übrigen in den Fall eines Nothſtandes. 1 Ueber das hier eintretende Fragerecht ſ. unten bei der Materie der Inter- vention. 2 Die verſchiedenen Anſichten ſind zuſammengeſtellt bei Günther I, S. 362 ff. 3 Hier iſt vorzüglich die Coalitionspolitik an ihrem Ort. Darauf beruhten unter anderm die großen Coalitionen in Betreff der Spaniſchen Monarchie vor Abſterben König Carls II., der Deutſche Fürſtenbund von 1785, die Coalition gegen Napoleon u. ſ. f.

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/76>, abgerufen am 23.11.2024.