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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Bd. 1,1. Nürnberg, 1812.

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Erstes Buch. I. Abschnitt.

Den einfachen Gedanken des reinen Seyns
hatte Parmenides zuerst als das Absolute und als
einzige Wahrheit, und in den übergebliebenen Fragmenten
von ihm, mit der reinen Begeisterung des Denkens, das
zum erstenmale sich in seiner absoluten Abstraction erfaßt,
ausgesprochen: nur das Seyn ist, und das
Nichts ist gar nicht
. -- Der tiefsinnige Heraklit
hob gegen jene einfache und einseitige Abstraction den
höhern totalen Begriff des Werdens hervor, und sagte:
das Seyn ist so wenig, als das Nichts, oder
auch daß Alles fließt, das heißt, daß Alles Werden
ist. -- Die populären, besonders orientalischen Sprü-
che, daß alles, was ist, den Keim seines Vergehens in
seiner Geburt selbst habe, der Tod umgekehrt der Ein-
gang in neues Leben sey, drücken im Grunde dieselbe
Einigung des Seyns und Richts aus. Aber diese Aus-
drücke haben ein Substrat, an dem der Uebergang ge-
schieht; Seyn und Nichts werden in der Zeit auseinander
gehalten, als in ihr abwechselnd vorgestellt, nicht aber
in ihrer Abstraction gedacht, und daher auch nicht so,
daß sie an und für sich dasselbe sind.

Ex nihilo nihil fit -- ist einer der Sätze, denen in
der sonstigen Metaphysik große Bedeutung zugeschrieben
wurde. Es ist aber darin entweder nur die gehaltlose
Tavtologie zu sehen: Nichts ist Nichts; oder wenn das
Werden wirkliche Bedeutung darin haben sollte, so ist
vielmehr, indem nur Nichts aus Nichts wird, in
der That kein Werden darin vorhanden, denn Nichts
bleibt Nichts. Das Werden enthält, daß Nichts nicht
Nichts bleibe, sondern in sein Anderes, in das Seyn
übergehe. -- Wenn die spätere vornemlich christliche
Metaphysik den Satz, aus Nichts werde Nichts, ver-
warf, so behauptete sie somit einen Uebergang von Nichts
in Seyn; so synthetisch oder bloß vorstellend sie auch die-

sen
Erſtes Buch. I. Abſchnitt.

Den einfachen Gedanken des reinen Seyns
hatte Parmenides zuerſt als das Abſolute und als
einzige Wahrheit, und in den uͤbergebliebenen Fragmenten
von ihm, mit der reinen Begeiſterung des Denkens, das
zum erſtenmale ſich in ſeiner abſoluten Abſtraction erfaßt,
ausgeſprochen: nur das Seyn iſt, und das
Nichts iſt gar nicht
. — Der tiefſinnige Heraklit
hob gegen jene einfache und einſeitige Abſtraction den
hoͤhern totalen Begriff des Werdens hervor, und ſagte:
das Seyn iſt ſo wenig, als das Nichts, oder
auch daß Alles fließt, das heißt, daß Alles Werden
iſt. — Die populaͤren, beſonders orientaliſchen Spruͤ-
che, daß alles, was iſt, den Keim ſeines Vergehens in
ſeiner Geburt ſelbſt habe, der Tod umgekehrt der Ein-
gang in neues Leben ſey, druͤcken im Grunde dieſelbe
Einigung des Seyns und Richts aus. Aber dieſe Aus-
druͤcke haben ein Subſtrat, an dem der Uebergang ge-
ſchieht; Seyn und Nichts werden in der Zeit auseinander
gehalten, als in ihr abwechſelnd vorgeſtellt, nicht aber
in ihrer Abſtraction gedacht, und daher auch nicht ſo,
daß ſie an und fuͤr ſich daſſelbe ſind.

Ex nihilo nihil fit — iſt einer der Saͤtze, denen in
der ſonſtigen Metaphyſik große Bedeutung zugeſchrieben
wurde. Es iſt aber darin entweder nur die gehaltloſe
Tavtologie zu ſehen: Nichts iſt Nichts; oder wenn das
Werden wirkliche Bedeutung darin haben ſollte, ſo iſt
vielmehr, indem nur Nichts aus Nichts wird, in
der That kein Werden darin vorhanden, denn Nichts
bleibt Nichts. Das Werden enthaͤlt, daß Nichts nicht
Nichts bleibe, ſondern in ſein Anderes, in das Seyn
uͤbergehe. — Wenn die ſpaͤtere vornemlich chriſtliche
Metaphyſik den Satz, aus Nichts werde Nichts, ver-
warf, ſo behauptete ſie ſomit einen Uebergang von Nichts
in Seyn; ſo ſynthetiſch oder bloß vorſtellend ſie auch die-

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[24/0072] Erſtes Buch. I. Abſchnitt. Den einfachen Gedanken des reinen Seyns hatte Parmenides zuerſt als das Abſolute und als einzige Wahrheit, und in den uͤbergebliebenen Fragmenten von ihm, mit der reinen Begeiſterung des Denkens, das zum erſtenmale ſich in ſeiner abſoluten Abſtraction erfaßt, ausgeſprochen: nur das Seyn iſt, und das Nichts iſt gar nicht. — Der tiefſinnige Heraklit hob gegen jene einfache und einſeitige Abſtraction den hoͤhern totalen Begriff des Werdens hervor, und ſagte: das Seyn iſt ſo wenig, als das Nichts, oder auch daß Alles fließt, das heißt, daß Alles Werden iſt. — Die populaͤren, beſonders orientaliſchen Spruͤ- che, daß alles, was iſt, den Keim ſeines Vergehens in ſeiner Geburt ſelbſt habe, der Tod umgekehrt der Ein- gang in neues Leben ſey, druͤcken im Grunde dieſelbe Einigung des Seyns und Richts aus. Aber dieſe Aus- druͤcke haben ein Subſtrat, an dem der Uebergang ge- ſchieht; Seyn und Nichts werden in der Zeit auseinander gehalten, als in ihr abwechſelnd vorgeſtellt, nicht aber in ihrer Abſtraction gedacht, und daher auch nicht ſo, daß ſie an und fuͤr ſich daſſelbe ſind. Ex nihilo nihil fit — iſt einer der Saͤtze, denen in der ſonſtigen Metaphyſik große Bedeutung zugeſchrieben wurde. Es iſt aber darin entweder nur die gehaltloſe Tavtologie zu ſehen: Nichts iſt Nichts; oder wenn das Werden wirkliche Bedeutung darin haben ſollte, ſo iſt vielmehr, indem nur Nichts aus Nichts wird, in der That kein Werden darin vorhanden, denn Nichts bleibt Nichts. Das Werden enthaͤlt, daß Nichts nicht Nichts bleibe, ſondern in ſein Anderes, in das Seyn uͤbergehe. — Wenn die ſpaͤtere vornemlich chriſtliche Metaphyſik den Satz, aus Nichts werde Nichts, ver- warf, ſo behauptete ſie ſomit einen Uebergang von Nichts in Seyn; ſo ſynthetiſch oder bloß vorſtellend ſie auch die- ſen

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Zitationshilfe: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Bd. 1,1. Nürnberg, 1812, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik0101_1812/72>, abgerufen am 24.11.2024.