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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807.

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gleich die Bedingung zugegeben werden; wenn er die
Wahrheit weiss. Das Gebot wird hiemit jetzt so
lauten; jeder soll die Wahrheit reden, jedesmal nach
seiner Kenntniss und Ueberzeugung
davon. Die gesunde
Vernunft, eben diss sittliche Bewusstseyn, welches
unmittelbar weiss, was recht und gut ist, wird auch
erklären, dass diese Bedingung mit seinem allgemei-
nen Ausspruche schon so verbunden gewesen sey,
dass sie jenes Gebot so gemeynt habe. Damit gibt sie
aber in der That zu, dass sie vielmehr schon unmit-
telbar im Aussprechen desselben dasselbe verletzte;
sie sprach; jeder soll die Wahrheit sprechen; sie
meynte aber, er solle sie sprechen nach seiner Kennt-
niss und Ueberzeugung davon; das heisst, sie sprach
anders als sie meynte;
und anders sprechen als man
meynt, heisst die Wahrheit nicht sprechen. Die ver-
besserte Unwahrheit oder Ungeschicklichkeit drückt
sich nun so aus: jeder solle die Wahrheit nach seiner
jedesmaligen Kenntniss und Ueberzeugung davon spre-
chen.
-- Damit aber hat sich das allgemein-nothwen-
dige an sich
geltende, welches der Satz aussprechen
wollte, vielmehr in eine vollkommne Zufälligkeit
verkehrt. Denn dass die Wahrheit gesprochen wird,
ist dem Zufalle, ob ich sie kenne und mich davon
überzeugen kann, anheimgestellt; und es ist weiter
nichts gesagt, als dass Wahres und Falsches durch-
einander, wie es kommt, dass es einer kennt, meynt
und begreifft, gesprochen werden solle. Diese Zu-
fälligkeit des Inhalts
hat die Allgemeinheit nur an der

gleich die Bedingung zugegeben werden; wenn er die
Wahrheit weiſs. Das Gebot wird hiemit jetzt so
lauten; jeder soll die Wahrheit reden, jedesmal nach
seiner Kenntniſs und Ueberzeugung
davon. Die gesunde
Vernunft, eben diſs sittliche Bewuſstseyn, welches
unmittelbar weiſs, was recht und gut ist, wird auch
erklären, daſs diese Bedingung mit seinem allgemei-
nen Ausspruche schon so verbunden gewesen sey,
daſs sie jenes Gebot so gemeynt habe. Damit gibt sie
aber in der That zu, daſs sie vielmehr schon unmit-
telbar im Aussprechen desselben dasselbe verletzte;
sie sprach; jeder soll die Wahrheit sprechen; sie
meynte aber, er solle sie sprechen nach seiner Kennt-
niſs und Ueberzeugung davon; das heiſst, sie sprach
anders als sie meynte;
und anders sprechen als man
meynt, heiſst die Wahrheit nicht sprechen. Die ver-
besserte Unwahrheit oder Ungeschicklichkeit drückt
sich nun so aus: jeder solle die Wahrheit nach seiner
jedesmaligen Kenntniſs und Ueberzeugung davon spre-
chen.
— Damit aber hat sich das allgemein-nothwen-
dige an sich
geltende, welches der Satz aussprechen
wollte, vielmehr in eine vollkommne Zufälligkeit
verkehrt. Denn daſs die Wahrheit gesprochen wird,
ist dem Zufalle, ob ich sie kenne und mich davon
überzeugen kann, anheimgestellt; und es ist weiter
nichts gesagt, als daſs Wahres und Falsches durch-
einander, wie es kommt, daſs es einer kennt, meynt
und begreifft, gesprochen werden solle. Diese Zu-
fälligkeit des Inhalts
hat die Allgemeinheit nur an der

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[361/0470] gleich die Bedingung zugegeben werden; wenn er die Wahrheit weiſs. Das Gebot wird hiemit jetzt so lauten; jeder soll die Wahrheit reden, jedesmal nach seiner Kenntniſs und Ueberzeugung davon. Die gesunde Vernunft, eben diſs sittliche Bewuſstseyn, welches unmittelbar weiſs, was recht und gut ist, wird auch erklären, daſs diese Bedingung mit seinem allgemei- nen Ausspruche schon so verbunden gewesen sey, daſs sie jenes Gebot so gemeynt habe. Damit gibt sie aber in der That zu, daſs sie vielmehr schon unmit- telbar im Aussprechen desselben dasselbe verletzte; sie sprach; jeder soll die Wahrheit sprechen; sie meynte aber, er solle sie sprechen nach seiner Kennt- niſs und Ueberzeugung davon; das heiſst, sie sprach anders als sie meynte; und anders sprechen als man meynt, heiſst die Wahrheit nicht sprechen. Die ver- besserte Unwahrheit oder Ungeschicklichkeit drückt sich nun so aus: jeder solle die Wahrheit nach seiner jedesmaligen Kenntniſs und Ueberzeugung davon spre- chen. — Damit aber hat sich das allgemein-nothwen- dige an sich geltende, welches der Satz aussprechen wollte, vielmehr in eine vollkommne Zufälligkeit verkehrt. Denn daſs die Wahrheit gesprochen wird, ist dem Zufalle, ob ich sie kenne und mich davon überzeugen kann, anheimgestellt; und es ist weiter nichts gesagt, als daſs Wahres und Falsches durch- einander, wie es kommt, daſs es einer kennt, meynt und begreifft, gesprochen werden solle. Diese Zu- fälligkeit des Inhalts hat die Allgemeinheit nur an der

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Zitationshilfe: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/470>, abgerufen am 22.11.2024.