er aber der Natur, der er sich entriss, noch angehöre, erweisst sich so, dass er in der Zufälligkeit zweyer Brüder heraustritt, welche mit gleichem Rechte sich desselben bemächtigen; die Ungleichheit der frühern und spätern Geburt hat für sie, die in das sitt- liche Wesen eintreten, als Unterschied der Natur, keine Bedeutung. Aber die Regierung, als die einfache Seele oder das Selbst des Volksgeistes, ver- trägt nicht eine Zweyheit der Individualität; und der sittlichen Nothwendigkeit dieser Einheit tritt die Na- tur als der Zufall der Mehrheit gegenüber auf. Die- se beyden werden darum uneins, und ihr gleiches Recht an die Staatsgewalt zertrümmert beyde, die gleiches Unrecht haben. Menschlicher Weise ange- sehen, hat derjenige das Verbrechen begangen, wel- cher, nicht im Besitze, das Gemeinwesen, an dessen Spitze der andere stand, angreifft; derjenige dage- gen hat das Recht auf seiner Seite, welcher den an- dern nur als Einzelnen, abgelösst von dem Gemein- wesen, zu fassen wusste und in dieser Machtlosig- keit vertrieb; er hat nur das Individuum als sol- ches, nicht jenes, nicht das Wesen des menschli- chen Rechts, angetastet. Das von der leeren Ein- zelnheit angegriffene und vertheidigte Gemeinwesen erhält sich, und die Brüder finden beyde ihren wech- selseitigen Untergang durcheinander; denn die Indi- vidualität, welche an ihr für sich seyn die Gefahr des Ganzen knüpft, hat sich selbst vom Gemeinwe- sen ausgestossen, und lösst sich in sich auf. Den
er aber der Natur, der er sich entriſs, noch angehöre, erweiſst sich so, daſs er in der Zufälligkeit zweyer Brüder heraustritt, welche mit gleichem Rechte sich desselben bemächtigen; die Ungleichheit der frühern und spätern Geburt hat für sie, die in das sitt- liche Wesen eintreten, als Unterschied der Natur, keine Bedeutung. Aber die Regierung, als die einfache Seele oder das Selbst des Volksgeistes, ver- trägt nicht eine Zweyheit der Individualität; und der sittlichen Nothwendigkeit dieser Einheit tritt die Na- tur als der Zufall der Mehrheit gegenüber auf. Die- se beyden werden darum uneins, und ihr gleiches Recht an die Staatsgewalt zertrümmert beyde, die gleiches Unrecht haben. Menschlicher Weise ange- sehen, hat derjenige das Verbrechen begangen, wel- cher, nicht im Besitze, das Gemeinwesen, an dessen Spitze der andere stand, angreifft; derjenige dage- gen hat das Recht auf seiner Seite, welcher den an- dern nur als Einzelnen, abgelöſst von dem Gemein- wesen, zu fassen wuſste und in dieser Machtlosig- keit vertrieb; er hat nur das Individuum als sol- ches, nicht jenes, nicht das Wesen des menschli- chen Rechts, angetastet. Das von der leeren Ein- zelnheit angegriffene und vertheidigte Gemeinwesen erhält sich, und die Brüder finden beyde ihren wech- selseitigen Untergang durcheinander; denn die Indi- vidualität, welche an ihr für sich seyn die Gefahr des Ganzen knüpft, hat sich selbst vom Gemeinwe- sen ausgestossen, und löſst sich in sich auf. Den
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0524"n="415"/>
er aber der Natur, der er sich entriſs, noch angehöre,<lb/>
erweiſst sich so, daſs er in der Zufälligkeit zweyer<lb/>
Brüder heraustritt, welche mit gleichem Rechte sich<lb/>
desselben bemächtigen; die Ungleichheit der frühern<lb/>
und spätern Geburt hat <hirendition="#i">für sie</hi>, die in das sitt-<lb/>
liche Wesen eintreten, als Unterschied der Natur,<lb/>
keine Bedeutung. Aber die Regierung, als die<lb/>
einfache Seele oder das Selbst des Volksgeistes, ver-<lb/>
trägt nicht eine Zweyheit der Individualität; und der<lb/>
sittlichen Nothwendigkeit dieser Einheit tritt die Na-<lb/>
tur als der Zufall der Mehrheit gegenüber auf. Die-<lb/>
se beyden werden darum uneins, und ihr gleiches<lb/>
Recht an die Staatsgewalt zertrümmert beyde, die<lb/>
gleiches Unrecht haben. Menschlicher Weise ange-<lb/>
sehen, hat derjenige das Verbrechen begangen, wel-<lb/>
cher, nicht <hirendition="#i">im Besitze</hi>, das Gemeinwesen, an dessen<lb/>
Spitze der andere stand, angreifft; derjenige dage-<lb/>
gen hat das Recht auf seiner Seite, welcher den an-<lb/>
dern nur als <hirendition="#i">Einzelnen</hi>, abgelöſst von dem Gemein-<lb/>
wesen, zu fassen wuſste und in dieser Machtlosig-<lb/>
keit vertrieb; er hat nur das Individuum als sol-<lb/>
ches, nicht jenes, nicht das Wesen des menschli-<lb/>
chen Rechts, angetastet. Das von der leeren Ein-<lb/>
zelnheit angegriffene und vertheidigte Gemeinwesen<lb/>
erhält sich, und die Brüder finden beyde ihren wech-<lb/>
selseitigen Untergang durcheinander; denn die Indi-<lb/>
vidualität, welche <hirendition="#i">an ihr für sich seyn</hi> die Gefahr<lb/>
des Ganzen knüpft, hat sich selbst vom Gemeinwe-<lb/>
sen ausgestossen, und löſst sich in sich auf. Den<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[415/0524]
er aber der Natur, der er sich entriſs, noch angehöre,
erweiſst sich so, daſs er in der Zufälligkeit zweyer
Brüder heraustritt, welche mit gleichem Rechte sich
desselben bemächtigen; die Ungleichheit der frühern
und spätern Geburt hat für sie, die in das sitt-
liche Wesen eintreten, als Unterschied der Natur,
keine Bedeutung. Aber die Regierung, als die
einfache Seele oder das Selbst des Volksgeistes, ver-
trägt nicht eine Zweyheit der Individualität; und der
sittlichen Nothwendigkeit dieser Einheit tritt die Na-
tur als der Zufall der Mehrheit gegenüber auf. Die-
se beyden werden darum uneins, und ihr gleiches
Recht an die Staatsgewalt zertrümmert beyde, die
gleiches Unrecht haben. Menschlicher Weise ange-
sehen, hat derjenige das Verbrechen begangen, wel-
cher, nicht im Besitze, das Gemeinwesen, an dessen
Spitze der andere stand, angreifft; derjenige dage-
gen hat das Recht auf seiner Seite, welcher den an-
dern nur als Einzelnen, abgelöſst von dem Gemein-
wesen, zu fassen wuſste und in dieser Machtlosig-
keit vertrieb; er hat nur das Individuum als sol-
ches, nicht jenes, nicht das Wesen des menschli-
chen Rechts, angetastet. Das von der leeren Ein-
zelnheit angegriffene und vertheidigte Gemeinwesen
erhält sich, und die Brüder finden beyde ihren wech-
selseitigen Untergang durcheinander; denn die Indi-
vidualität, welche an ihr für sich seyn die Gefahr
des Ganzen knüpft, hat sich selbst vom Gemeinwe-
sen ausgestossen, und löſst sich in sich auf. Den
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/524>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.