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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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"Lottchen bey dem Grabe ihres Werthers" trauert.
Der Schneider zerfloß vor Sentimentalität bey
den Worten: "Einsam wein' ich an der Rosen¬
quelle, wo uns oft der späte Mond belauscht! Jam¬
mernd irr' ich an der Silberquelle, die uns lieblich
Wonne zugerauscht." Aber bald darauf ging er in
Muthwillen über, und erzählte mir: "Wir ha¬
ben einen Preußen in der Herberge zu Cassel, der
eben solche Lieder selbst macht; er kann keinen seli¬
gen Stich nähen; hat er einen Groschen in der
Tasche, so hat er für zwey Groschen Durst, und
wenn er im Thran ist, hält er den Himmel für
ein blaues Camisol, und weint wie eine Dachtraufe,
und singt ein Lied mit der doppelten Poesie!" Von
letzterem Ausdruck wünschte ich eine Erklärung,
aber mein Schneiderlein, mit seinen Ziegenhainer
Beinchen, hüpfte hin und her und rief beständig:
"Die doppelte Poesie ist die doppelte Poesie!" End¬
lich brachte ich es heraus, daß er doppelt gereimte
Gedichte, namentlich Stanzen, im Sinne hatte. --
Unterdeß, durch die große Bewegung und durch

„Lottchen bey dem Grabe ihres Werthers“ trauert.
Der Schneider zerfloß vor Sentimentalitaͤt bey
den Worten: „Einſam wein' ich an der Roſen¬
quelle, wo uns oft der ſpaͤte Mond belauſcht! Jam¬
mernd irr' ich an der Silberquelle, die uns lieblich
Wonne zugerauſcht.“ Aber bald darauf ging er in
Muthwillen uͤber, und erzaͤhlte mir: „Wir ha¬
ben einen Preußen in der Herberge zu Caſſel, der
eben ſolche Lieder ſelbſt macht; er kann keinen ſeli¬
gen Stich naͤhen; hat er einen Groſchen in der
Taſche, ſo hat er fuͤr zwey Groſchen Durſt, und
wenn er im Thran iſt, haͤlt er den Himmel fuͤr
ein blaues Camiſol, und weint wie eine Dachtraufe,
und ſingt ein Lied mit der doppelten Poeſie!“ Von
letzterem Ausdruck wuͤnſchte ich eine Erklaͤrung,
aber mein Schneiderlein, mit ſeinen Ziegenhainer
Beinchen, huͤpfte hin und her und rief beſtaͤndig:
„Die doppelte Poeſie iſt die doppelte Poeſie!“ End¬
lich brachte ich es heraus, daß er doppelt gereimte
Gedichte, namentlich Stanzen, im Sinne hatte. —
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[136/0148] „Lottchen bey dem Grabe ihres Werthers“ trauert. Der Schneider zerfloß vor Sentimentalitaͤt bey den Worten: „Einſam wein' ich an der Roſen¬ quelle, wo uns oft der ſpaͤte Mond belauſcht! Jam¬ mernd irr' ich an der Silberquelle, die uns lieblich Wonne zugerauſcht.“ Aber bald darauf ging er in Muthwillen uͤber, und erzaͤhlte mir: „Wir ha¬ ben einen Preußen in der Herberge zu Caſſel, der eben ſolche Lieder ſelbſt macht; er kann keinen ſeli¬ gen Stich naͤhen; hat er einen Groſchen in der Taſche, ſo hat er fuͤr zwey Groſchen Durſt, und wenn er im Thran iſt, haͤlt er den Himmel fuͤr ein blaues Camiſol, und weint wie eine Dachtraufe, und ſingt ein Lied mit der doppelten Poeſie!“ Von letzterem Ausdruck wuͤnſchte ich eine Erklaͤrung, aber mein Schneiderlein, mit ſeinen Ziegenhainer Beinchen, huͤpfte hin und her und rief beſtaͤndig: „Die doppelte Poeſie iſt die doppelte Poeſie!“ End¬ lich brachte ich es heraus, daß er doppelt gereimte Gedichte, namentlich Stanzen, im Sinne hatte. — Unterdeß, durch die große Bewegung und durch

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/148>, abgerufen am 04.12.2024.