Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.Bewundert, wie die Bäume fleißig wachsen, Zu mir kam auch der May. Er klopfte dreymal An meine Thür', und rief: Ich bin der May, Du bleicher Träumer, komm, ich will dich küssen! Ich hielt verriegelt meine Thür', und rief: Vergebens lockst du mich, du schlimmer Gast; Ich habe dich durchschaut, ich hab' durchschaut Den Bau der Welt, und hab' zu viel geschaut, Und viel zu tief, und hin ist alle Freude, Und ew'ge Qualen zogen in mein Herz. Ich schaue durch die steinern-harten Rinden Der Menschenhäuser und der Menschenherzen, Und schau' in beyden Lug und Trug und Elend. Auf den Gesichtern les' ich die Gedanken, Viel schlimme. In der Jungfrau Scham-Erröthen Seh' ich geheime Lust begehrlich zittern; Auf dem begeistert stolzen Jünglingshaupt' Bewundert, wie die Baͤume fleißig wachſen, Zu mir kam auch der May. Er klopfte dreymal An meine Thuͤr', und rief: Ich bin der May, Du bleicher Traͤumer, komm, ich will dich kuͤſſen! Ich hielt verriegelt meine Thuͤr', und rief: Vergebens lockſt du mich, du ſchlimmer Gaſt; Ich habe dich durchſchaut, ich hab' durchſchaut Den Bau der Welt, und hab' zu viel geſchaut‚ Und viel zu tief, und hin iſt alle Freude, Und ew'ge Qualen zogen in mein Herz. Ich ſchaue durch die ſteinern-harten Rinden Der Menſchenhaͤuſer und der Menſchenherzen, Und ſchau' in beyden Lug und Trug und Elend. Auf den Geſichtern leſ' ich die Gedanken, Viel ſchlimme. In der Jungfrau Scham-Erroͤthen Seh' ich geheime Luſt begehrlich zittern; Auf dem begeiſtert ſtolzen Juͤnglingshaupt' <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="1"> <pb facs="#f0094" n="82"/> <l>Bewundert, wie die Baͤume fleißig wachſen,</l><lb/> <l>Spielt mit den bunten, zarten Bluͤmelein,</l><lb/> <l>Horcht auf den Sang der luſt'gen Voͤgelein,</l><lb/> <l>Und jauchzt hinauf zum blauen Himmelszelt.</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>Zu mir kam auch der May. Er klopfte dreymal</l><lb/> <l>An meine Thuͤr', und rief: Ich bin der May,</l><lb/> <l>Du bleicher Traͤumer, komm, ich will dich kuͤſſen!</l><lb/> <l>Ich hielt verriegelt meine Thuͤr', und rief:</l><lb/> <l>Vergebens lockſt du mich, du ſchlimmer Gaſt;</l><lb/> <l>Ich habe dich durchſchaut, ich hab' durchſchaut</l><lb/> <l>Den Bau der Welt, und hab' zu viel geſchaut‚</l><lb/> <l>Und viel zu tief, und hin iſt alle Freude,</l><lb/> <l>Und ew'ge Qualen zogen in mein Herz.</l><lb/> <l>Ich ſchaue durch die ſteinern-harten Rinden</l><lb/> <l>Der Menſchenhaͤuſer und der Menſchenherzen,</l><lb/> <l>Und ſchau' in beyden Lug und Trug und Elend.</l><lb/> <l>Auf den Geſichtern leſ' ich die Gedanken,</l><lb/> <l>Viel ſchlimme. In der Jungfrau Scham-Erroͤthen</l><lb/> <l>Seh' ich geheime Luſt begehrlich zittern;</l><lb/> <l>Auf dem begeiſtert ſtolzen Juͤnglingshaupt'</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [82/0094]
Bewundert, wie die Baͤume fleißig wachſen,
Spielt mit den bunten, zarten Bluͤmelein,
Horcht auf den Sang der luſt'gen Voͤgelein,
Und jauchzt hinauf zum blauen Himmelszelt.
Zu mir kam auch der May. Er klopfte dreymal
An meine Thuͤr', und rief: Ich bin der May,
Du bleicher Traͤumer, komm, ich will dich kuͤſſen!
Ich hielt verriegelt meine Thuͤr', und rief:
Vergebens lockſt du mich, du ſchlimmer Gaſt;
Ich habe dich durchſchaut, ich hab' durchſchaut
Den Bau der Welt, und hab' zu viel geſchaut‚
Und viel zu tief, und hin iſt alle Freude,
Und ew'ge Qualen zogen in mein Herz.
Ich ſchaue durch die ſteinern-harten Rinden
Der Menſchenhaͤuſer und der Menſchenherzen,
Und ſchau' in beyden Lug und Trug und Elend.
Auf den Geſichtern leſ' ich die Gedanken,
Viel ſchlimme. In der Jungfrau Scham-Erroͤthen
Seh' ich geheime Luſt begehrlich zittern;
Auf dem begeiſtert ſtolzen Juͤnglingshaupt'
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